Der Kampf um die menschliche Mitte I

Ein spiritueller Beitrag zu der Diskussion von Bill Joy und Ray Kurzweil


Die Fähigkeit des Menschen, zu den Grenzbereichen der Materie vorzudringen, deren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und für die Entwicklung neuerster Technik einzusetzen, hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Im Dezember 2001 erklärte die Fachzeitschrift »Science« Erfolge der Nanotechnologie zum »Durchbruch des Jahres«: Mehreren Teams war es gelungen, Schaltkreise nicht wie bisher aus immer weiter verkleinerten, auf Silizium aufgetragenen Strukturen zu formen, sondern erstmals aus molekularen Bauelementen. Diese Anfänge sollen die Grundlage für zukünftige Computer bilden, die mit vieltausendfach höherer Leistung arbeiten werden.
Auf dem Hintergrund dieser sich beschleunigenden Entwicklung schildert Ray Kurzweil, ein bekannter Erfinder auf dem Gebiet der Computertechnik und einer der einflußreichsten Wissenschaftstheoretiker Amerikas, mit Optimismus die sich daraus für den technischen Fortschritt ergebenden Zukunftsmöglichkeiten .
Die Grundlage seines Weltbildes kommt in der folgenden Aussage zum Ausdruck: »Die Evolution hat hochgradig intelligente Formen hervorgebracht, doch wenn wir die Zeitspanne berücksichtigen, die sie gebraucht hat, werden wir, so glaube ich, feststellen müssen, daß ihr Intelligenzquotient nur wenig über Null liegt. Trotzdem genügt ihr ein IQ nur wenig über Null, um die Entropie zu besiegen und ganz außergewöhnliche Formen hervorzubringen, so wie vielleicht eine kleine Asymmetrie in den physikalischen Gesetzen ausgereicht hat, daß die Materie beinahe vollständig die Antimaterie überwältigt hat.
Deshalb kann der Mensch auch intelligenter sein als das System, das ihn hervorgebracht hat: die Evolution. Wenn wir die Geschwindigkeit des menschlichen Fortschritts mit der der Evolution vergleichen, so spricht vieles dafür, daß wir weit intelligenter sind als der überaus langsame Prozeß, der uns geschaffen hat. Man denke nur an die immensen Fortschritte, die wir über einen Zeitraum von wenigen Jahrtausenden erzielt haben!«
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In diesen Vorstellungen Kurzweils kommt nicht nur eine persöhnliche Meinung zum Ausdruck sondern ein geistiger Strom innerhalb unserer Kultur, der sich mit Macht zu realisieren sucht. Bereits um die Mitte des 21. Jahrhunderts soll nach Kurzweil durch die Nanotechnologie die Maschine dem menschlichen Gehirn an Intelligenz weit überlegen sein und Gefühle und Bewußtsein zu entwickeln beginnen. Er stellt eine Welt in Aussicht, in der Milliarden sich selbst reproduzierende winzige Nanoboter sich durch die Adern und Kapillaren bis zum Gehirn des Menschen bewegen und in drahtloser Kommunikation miteinander stehend, von innen heraus den physischen Leib kartografieren. Wenn der Gesamtüberblick hergestellt ist, soll begonnen werden, die eigene physische Grundlage technisch zu verbessern. Nanoboter könnten neben ausgewählten Nervenfasern positioniert werden und so von innen heraus durch Signale dem Gehirn die erwünschte Virtual Reality darstellen.
Die Frage nach dem freien Willen der Individualität beantwortet Kurzweil mit den Worten: »Ich sage doch nicht, dass wir uns entscheiden können, ob diese Technologien entstehen. Ich sage: Diese Technologien werden mit Sicherheit noch zu unseren Lebzeiten entstanden sein.«
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Nanoboter, so Kurzweil weiter: »können unser Hirn verbessern. Wir haben nun hundert Trillionen Verbindungen, in Zukunft werden wir eine Million oder Trillion Mal so viel unser Eigen nennen. Dadurch können wir unser Gedächtnis und unsere Denkleistung vergrößern. Menschliche Intelligenz wird steigen…Ich halte das für den nächsten Schritt in unserer Evolution…Zwischen Maschine und Mensch wird es keine klaren Unterschiede mehr geben.«3

Was Kurzweil so sicher macht, ist das »Moores Gesetz«, nach dem sich alle 18 Monate, wie es der Intel-Mitbegründer Gordon Moore formulierte, die Rechenleistung der Prozessorchips verdoppelt. Diese Voraussage hat sich bisher als erstaunlich präzise erwiesen.
In der amerikanischen Nation sieht Kurzweil »aufgrund seiner frontier mentality« den Vorreiter dieser Entwicklung im Rennen um die Zukunft. Die Kluft zwischen Amerika und Europa wird in fast allen zukunftsträchtigen Entwicklungen immer größer. Während man in Europa, wie Kurzweil feststellt, über diese Perspektiven lächelt und vor sich hin träumt, wird diese sich beschleunigende Entwicklung in Amerika sehr ernst genommen.
So holte der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton Kurzweil in seinen Beraterstab und erklärte die Nanotechnologie und die Verbindung von Gen- und Computertechnologie zu den Schlüsseltechnologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Am 21. Januar 2000 sagt Clinton in Anspielung auf Kennedys berühmte Raumfahrtrede: »Diese nationale Initiative wird uns die Möglichkeit verschaffen, Materie auf der atomaren und subatomaren Ebene zu verändern. Machen Sie sich die Möglichkeiten klar: Materialien, die zehnmal so stark sein werden wie Stahl und nur einen Bruchteil seines Gewichts haben. Wir werden alle Informationen der Library of Congress auf den Umfang eines Zuckerwürfels reduzieren können. Wir werden Krebszellen entdecken können, wenn sie erst ein paar Zellen groß sein werden. Vielleicht brauchen wir dafür zwanzig oder sogar mehr Jahre - und deshalb wird die amerikanische Regierung diese Initiative begründen und bezahlen.«
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In einem Schreiben des Weißen Hauses an den amerikanischen Kongress wird die Nanotechnologie und die Verbindung von Gentechnologie und Computerwissenschaft zur Priorität ersten Grades erklärt - mit einer Verdoppelung des Etats.

Kritik an der Technikgläubigkeit
Auf Bill Joy, dem bedeutenden amerikanische Software-Entwickler wirken die Argumente von Ray Kurzweil so überzeugend, dass er sich mit einem Essey »Warum die Zukunft uns nicht braucht«
5 warnend an die Öffentlichkeit wendet. Er erkennt durch die Beschäftigung mit Kurzweils Thesen, dass die Technologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts - Robotik, Nanotechnologie und Genetik - viel größere Gefahren in sich bergen als die des zwanzigsten Jahrhunderts, da sie sich in ganz anderen Dimensionen bewegen. Er drückt die auf die Gesellschaft zukommende Bedrohung mit den Worten aus: »An die Stelle der Massenvernichtungswaffen tritt damit die Gefahr einer wissensbasierten Massenvernichtung, die durch das hohe Vermehrungspotential noch deutlich verstärkt wird. Ich denke, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, wir stehen an der Schwelle zu einer weiteren Perfektion des Bösen in seinen extremsten Ausprägungen; und diesmal werden die so geschaffenen schrecklichen Möglichkeiten nicht nur Nationalstaaten zur Verfügung stehen, sondern auch einzelnen Extremisten.«6
Mit Robotik, Nanotechnologie und Gentechnik, stellt Bill Joy am Ende seines Esseys fest »…öffnen wir eine neue Büchse der Pandora, aber offenbar ist uns das kaum bewusst«.
So kommt Bill Joy, da er diese Technologien für den Menschen als zu mächtig erkennt, als dass er in der Lage wäre, sich vor ihnen zu schützen, zu der Auffassung: »Die einzig realistische Alternative, die ich sehe, lautet Verzicht: Wir müssen auf die Entwicklung allzu gefährlicher Technologien verzichten und unserer Suche nach bestimmten Formen des Wissens Grenzen setzen.«
7 Und er schließt mit der Hoffnung auf eine breite Diskussion über die von ihm angesprochenen Fragen.
Dem Essey wurde auf der ganzen Welt große Aufmerksamkeit zu Teil. Es folgten Diskussionen und Beiträge vieler Fachleute.

Am Beispiel der Gentechnik in den letzten Jahren und der sich dazu verändernden Meinungsbildung kann jedoch aufgezeigt werden, wie ungeachtet dieser Diskussionen die Entwicklung der neuen Technologie vorangetrieben wird.
Im Februar 1997 wurde von den schottischen Wissenschaftlern das geklonte Schaf Dolly, das bereits sieben Monate alt war, der Öffentlichkeit vorgestellt. Das geklonte Schaf sorgte nicht nur in der wissenschaftlichen Welt für Aufsehen. In den folgenden Tagen wuchs die allgemeine Welle der Entrüstung, Hilflosigkeit und des Unverständnisses darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit die Öffentlichkeit vor vollendete Tatsachen gestellt worden war. Bioethiker und Politiker waren sich darin einig, dass der neuen Technik Einhalt geboten werden müsse, bevor es zur Klonierung eines Menschen kommt.
Zum ersten Mal war ein zuvor als technisch unmöglich geltendes Verfahren angewendet worden. Es gelang den Forschern, die Kerne von Zellen eines erwachsenen, sechs Jahre alten Schafes auf genetische Weise zu duplizieren und so ein Lamm zur Welt zu bringen.
War die Reaktion im Jahr 1997 auf die Nachricht des geklonten Schafes wie das Herausgerissen werden aus einem Schlaf, so konnte man im darauffolgenden Jahr 1998, obwohl die Diskussion mit großen Emotionen unvermindert fortgeführt wurden, erleben, daß sich die Vorstellung der mechanischen Herstellung neuer Wesen nach eigener Maßgabe und Verwendung wie eine sich bereits vollzogene Tatsache in das Fühlen des Menschen zu senken begann. So trägt bereits am 18. Februar 1998 ein Artikel in der »FAZ« die Überschrift: »Klonieren bald gesellschaftsfähig«?, mit dem Untertitel: »Amerikanische Forscher wollen mit Embryonen des Menschen experimentieren«. Im gleichen Jahr kündete der amerikanische Wissenschaftler Richard Seed an, mit dem Klonen eines Kindes aus der Zelle eines erwachsenen Menschen zu beginnen, und die Regierung, so stellt Seed fest, werde nicht die Macht haben, ihn daran zu hindern.
Drei Jahre später, im Jahr 2001, finden sich diese Gedanken im allgemeinen Kulturstrom, in einem Prospekt einer Ausstellung mit dem Namen »Genetische Revolution« wieder, die das »American Museum of Natural History« in New York veranstaltet: »Es ist bereits technisch möglich, Menschen zu klonen, nur gesetzliche Schranken von Regierungen stehen dem noch entgegen. Das bedeutet,« liest man weiter, »daß das Klonen von Menschen nur noch eine Frage der Zeit ist.«
Im November 2001 erreichte dann die Kontrverse einen Höhepunkt, als die amerikanische Firma Advansed Cell Technology meldete, die ersten menschlichen Embryonen geklont zu haben. Die Tatsache jedoch, dass sich bei diesem Verfahren nur ganz wenige der Keime gesund entwickeln, stellt die Wissenschaftler vor ein Rätsel und hält sie noch davon ab, den letzten Schritt offiziell zu wagen.
In der politischen Debatte war das Klonen von Menschen zunächst eindeutig abgelehnt worden, was sich jedoch im Laufe der letzten Jahre durch die Frage relativierte, ob es momentan ethisch vertretbar ist, einen Menschen zu klonen und, wo das menschliche Leben überhaupt beginnt. Diese Tendenz, unsere eigene physisch-seelische Grundlage in Frage zu stellen, die Schöpfung selbst nicht als gottgegeben anzunehmen, zeugt von dem erwachten Selbstbewußtsein des Menschen, welches sich vor die Frage gestellt sieht, wie es sich seine weitere Zukunft, ja die Evolution selbst vorstellt. Der Mensch steht an einem bedeutenden Punkt seiner Entwicklung, an dem er als gewordenes Wesen selbst zum Schöpfer wird.
Bei den Diskussionen, die durch Ray Kurzweil und Bill Joy ausgelöst wurden, könnte man vergessen, dass außer der Technik auch dem Menschen eine Entwicklung zusteht. Da Ray Kurzweil jedoch seine Sichtweise ausschließlich auf sein Fachgebiet ausrichtet, bezieht er eine solche in sein Gedankengut nicht ein. Kurzweil versteht den Menschen als eine Gattung, die auf der biologischen Ebene bereits ihren Höhepunkt erreicht hat und nun für die weitere Evolution nur dazu dient, durch das Hervorbringen modernster Technik einen Evolutionssprung einzuleiten, der ihn schließlich überflüssig machen wird.
»Die Maschinen werden uns davon überzeugen«, sagt Kurzweil, »dass sie ein Bewusstsein haben. Alle subtilen Regungen, die wir mit Bewusstsein assoziieren, werden in ihnen vorkommen. Das ist kein wissenschaftlicher Beweis ihres Bewusstseins, aber die Menschen werden es ihnen glauben. Und wenn wir ihnen nicht glauben, könnten sie ganz schön böse werden.«
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Nachdem der Schachweltmeister Garri Kasparow 1997 gegen den IBM-Computer »Deep Blue« verloren hatte, widersprach er der Behauptung, »Deep Blue« sei nur so klug gewesen wie die Summe dessen, was die Ingenieure hineingetan hätten. Er habe die Vorgehensweise von »Deep Blue« genau beobachtet und starke Stimmungsschwankungen registriert: Manchmal habe er sich wie ein Kind verhalten, manchmal wie ein normaler Schachspieler- »aber manchmal wie ein Gott.«
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Diese Äußerungen bestätigen Kurzweils Anschauung. Wenn Kasparow solche Wahrnehmungen bereits bei einer heutigen Maschine hat, wie leicht werden es die zukünftigen haben, den Menschen zu überzeugen, dass sie Empfindungen und Bewußtsein besitzen.

Die Wahrnehmung Bill Joys von der Macht der neuen Technologien, weist auf einen dem Menschen überlegenen »Willen« hin, den schon Goethe wahrnahm: »Das Überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen…Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hilfe bringen.«10

Nicht im Verzicht auf die neuen Technologien, wie Bill Joy ihn fordert, liegt die Lösung, sondern in einer zweite Strömung, die von dem materialistischen Denken nicht wahrgenommen werden kann. Sie stellt zu den Mächten, die die weitere Evolution in die Erstarrung führen wollen und die aus der Anthroposophie haraus als Luzifer, Ahriman, Asuras und Sorat bezeichnet werden den notwendigen Ausgleich her.

1 Raymond Kurzweil, KI Das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, München 1993, S 21.
2 F.A.Z.,5.7.2000
3 ebd.
4 ebd.
5 Bill Joy, Warum die Zukunft uns nicht braucht, F.A.Z., 6. Juni 2000
6 ebd.
7 ebd.
8 F.A.Z.,5.7.2000
9 F.A.Z. 18.April 2002.
10 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch 13. Kapitel.




Der Kampf um die menschliche Mitte II Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung


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