Der innere Erkenntnisweg

Rainer Maria Rilke

»Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein. Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen nicht nur zeitbegrenzt zu gebrauchen, sondern, soweit wirs vermögen, in jene überlegenen Bedeutungen einzustellen, an denen wir teilhaben. Aber nicht im christlichen Sinne (von dem ich mich immer leidenschaftlicher entferne), sondern, in einem rein irdischen, tief irdischen, selig irdischen Bewußtsein gilt es, das hier Geschaute und Berührte in den weiteren, den weitesten Umkreis, einzuführen. Nicht in ein Jenseits, dessen Schatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze. Die Natur, die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs, sind Vorläufigkeiten und Hinfälligkeiten; aber sie sind, solange wir hier sind, unser Besitz und unsere Freundschaft, Mitwisser unserer Not und Froheit, wie sie schon die Vertrauten unserer Vorfahren gewesen sind. So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ,unsichtbar’ wieder aufersteht.«

Rainer Maria Rilke, Briefe aus Muzot, Hrsg. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1936, S. 334 f.

Novalis

»Auf alles, was der Mensch vornimmt, muß er seine ungeteilte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten … Höchst merkwürdig ist es, daß der Mensch erst in diesem Spiele seine Eigentümlichkeit, seine spezifische Freiheit recht gewahr wird, und daß es ihm vorkommt, als erwache er aus einem tiefen Schlafe, als sei er nun erst in der Welt zu Hause, und verbreite jetzt erst das Licht des Tages sich über seine innere Welt. Er glaubt es am höchsten gebracht zu haben, wenn er, ohne jenes Spiel zu stören, zugleich die gewöhnlichen Geschäfte der Sinne vornehmen, und empfinden und denken zugleich kann. Dadurch gewinnen beide Wahrnehmungen: die Außenwelt wird durchsichtig, und die Innenwelt mannigfaltig und bedeutungsvoll, und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwei Welten in der vollkommensten Freiheit und dem freudigsten Machtgefühl.«1
Es ist ein Vorgang der Verwandlung der Seele, den Novalis in folgendem Brief an Friedrich Schlegel »Philosophie« nennt, indem er schreibt: »Mein Lieblingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sophia heißt sie - Philosophie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst.«2

Diesen Weg der Philosophie teilt Novalis in drei Stufen ein:3

1. Wachen
2. Wachsein
3. Bewußtsein

1 Richard Samuel, Novalis-Ausgabe, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 97.

2 Richard Samuel, Novalis-Ausgabe, Bd. 4, Stuttgart 1975, S. 188.

3 Richard Samuel, Novalis-Ausgabe, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 572.

Rudolf Steiner

"Die hier gemeinte Seelenarbeit besteht in der unbegrenzten Steigerung von Seelenfähigkeiten, welche auch das gewöhnliche Bewusstsein kennt, die diese aber in solcher Steigerung nicht anwendet. Es sind die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und der liebevollen Hingabe an das von der Seele erlebte".

Die Rätsel der Philosophie, GA18, Kap. Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie."

"Dankbarkeit. Es ist die schönste Art, von seiner Persönlichkeit aus zum Übersinnlichen hingeführt zu werden, wenn diese Führung durch die Dankbarkeit geht, durch die Dankbarkeit gegenüber dem Leben. Diese Dankbarkeit, sie ist auch ein Weg ins Übersinnliche, und sie landet zuletzt bei der Verehrung und bei der Liebe zu dem lebenspendenden Geist des Menschen. Die Dankbarkeit gebiert die Liebe. Die Liebegebiert dann, wenn sie aus der Dankbarkeit für das Leben geboren ist, das Aufschließen des Herzens für die das Leben durchdringenden Geistesmächte."

GA 239, Seite 224

Ramana Maharshi

"Tauchen sie nach Innen. Sie gewahren dann, dass der Geist im Innern aufsteigt. So sinken sie in sich hinein und suchen nach ihm. Sie müssen sich während der Übung mit ungeteilter Aufmerksamkeit an den <ich> Gedanken halten und seinen Ursprung suchen. Dann werden sie feststellen, dass sich dort, wohin der Atem absinkt, die Quelle des <ich> Gedankens befindet. Beide sinken und steigen gemeinsam. Wenn Atem und <ich> Gedanke still geworden sind, offenbart sich dort ein leuchtendes, ununterbrochenes ICH-ICH-SEIN ohne Grenzen. Das ist das Ziel, für das es verschiedene Namen gibt: Gott, Selbst Kundalini, sakti, Bewusstsein, Yoga, Bhakti, Jnana usw. Seligkeit."

"Das einzig Bleibende ist die Wiklichkeit, und sie ist das Selbst. Sie sagen <Ich bin> und <Ich bin es, der geht, der spricht, der arbeitet>. Fügen Sie bei allen einen Bindestrich ein: <Ich-Bin.> Das ist die zugrundeliegende und bleibende Wirklichkeit. Diese Wahrheit lehrt Gott Moses: <Ich bin der Ich-Bin.> <Sei still und erkenne, Ich-Bin Gott.> So ist <Ich-Bin> Gott."

Ramana Maharshi, Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala, Interlaken 1984

Meister Eckehart

Meister Eckhart geht den Weg der Entwerdung, indem er seine Person zu überwinden sucht. »Du mußt wissen«, sagt er, »daß sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, daß er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst. Damit heb an, und laß dich alles kosten, was du aufzubringen vermagst. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst.«1

Eckhart sucht das Ich des Menschen, indem er von allem lassen will, was nicht Ich ist, um so zum »Wahren Menschen« zu gelangen, in dem er sich mit Christus eins wissen kann. Doch um dieses Ziel zu erreichen, muß er auch den Willen, es zu erstreben, von sich weisen, worüber er sagt: »Solange der Mensch dies noch an sich hat, daß es sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen; denn dieser Mensch hat (noch) einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will, und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muß er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er’s war, als er (noch) nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht richtig arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt.«2

In diesem Sich-Leermachen von aller Ich-Bezogenheit strebt Eckhart nach der Unschuld der ungeborenen Seele, der Sphäre der göttlichen Sophia. In seiner zweiten Predigt nennt er diesen Bewußtseinszustand die »Jungfrau«, die den Christus empfängt. Sie ist ihm ein Mensch »der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, da er noch nicht war.« Doch, wenn der Mensch in diesem Bewußtseinszustand verbleiben würde, »so käme keine Frucht von ihm. Soll er fruchtbar werden, so ist es notwendig, daß er Weib sei. »Weib« ist der edelste Name, den man der Seele zulegen kann, und ist viel edler als »Jungfrau«. Daß der Mensch Gott in sich empfängt, das ist gut, und in dieser Empfänglichkeit ist er Jungfrau. Daß aber Gott fruchtbar in ihm werde, das ist besser; denn Fruchtbarwerden der Gabe, das allein ist Dankbarkeit für die Gabe, und da ist der Geist Weib in der wiedergebärenden Dankbarkeit, wo er Jesum wiedergebiert in Gottes väterliches Herz.«3

Aus diesem Wissen, daß die Seele, wenn sie in dem Erleben ihrer selbst verweilen würde, ohne Frucht zu tragen, in sich verdirbt, betrachtet Eckhart die Begegnung des Jesus mit Martha und Maria. Hier vermag er diese Begegnung neu zu interpretieren. Sowohl in der mystischen Bewegung als auch in den Evangelien hatte Maria den besseren Teil erwählt. Doch Eckhart sieht in Martha den Menschen, der »Weib« geworden ist, der den Christus in sich aufgenommen hat und die Früchte im alltäglichen Wirken darbringen kann.4

1Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1979, 4. Traktat

2 Ebd. 32. Predigt

3 Ebd. 2. Predigt.

4 Ebd. 28. Predigt.


Artikel von Zoran Perowanowitsch Der Gral Zitate