Die Suche nach dem gegenwärtigen Christus I

Die „Kosmische Jungfrau Sophia“


Vision des  kosmischen Menschen - Hildegard von BingenWährend sich in früherer Zeit ein Ereignis auf begrenzte geographische Gebiete beschränkt, wird davon heute durch die moderne Technik das gesamte Kulturleben, unabhängig von den nationalen Grenzen, beeinflusst. Dieser Umstand ist eine Offenbarung des stärker werdenden Bewusstseins eines Erden-Schicksals, eines gemeinsam zu klärenden seelischen Potentials. Doch wie alle Erscheinungen auf der polaren physischen Ebene hat auch die technische Entwicklung Ihre zwei Wirksamkeiten; einerseits eine dienende, andererseits eine hemmende, indem der seelisch-geistige Raum zu erstarren droht, da in der Technik ein zukunftsweisender Entwicklungsstrom gesehen wird, auf den das eigentliche Bedürfnis nach innerer Entwicklung projiziert wird. Je mehr der Mensch von der Technik in seinem Sinnesleben gefesselt wird, umso mehr verliert er seine Beziehung zur geistigen Welt. Um diesem sich auf der ganzen Erde ausbreitenden Materialismus entgegenzuwirken, suchen die verschiedensten geistigen Strömungen eine gemeinsame Ebene, auf der sich ein Dialog entfalten kann. Hierbei kommt dem Bemühen der beiden großen Religionen, der des Christentums und der des Buddhismus, eine große Bedeutung zu, denn Wahrheit auch in einer anderen Religion, frei von eigener konfessioneller Bindung, zu erkennen, führt zu innerer Freiheit und dadurch zum Frieden.
Wenn wir uns der Mitte des 19. Jahrhunderts zuwenden, können wir feststellen, dass bereits ab diesem Zeitraum, in dem durch die Industrialisierung die Mechanisierung der menschlichen Bewegung stattfindet, auch das Wissen um das Wesen des Raumes verloren zu gehen beginnt. Die Menschen wandten sich verstärkt von der geistigen Welt ab und leugneten immer mehr das göttliche Dasein. So wurde die Anschauung des Raumes, der von den Menschen zuvor noch als geisterfüllt erlebt worden war, mit der fortschreitenden Entwicklung durch die Hand des Atheismus getötet.
In den Bildern eines Traumes drückt Jean Paul die Stimmung seiner Zeit aus. Als er an einem Sommerabend auf einem Berg einschlief, da träumte er, wie der Christus mit einem unendlichen Schmerz aus der Höhe herniederkahm und sprach: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schaute in den Abgrund und rief: >Vater, wo bist du?< aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht … So hob der Christus groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: ›Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall!“ „Und als ich erwachte“, schreibt Jean Paul weiter, „weinte meine Seele vor Freude, … daß sie wieder Gott anbeten konnte - und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.“
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Dieser Prozess des sich Herauslösens aus den kosmischen Zusammenhängen setzte sich verstärkt in unserem Jahrhundert fort, in dem die Technikgläubigkeit mit jeder neuentdeckten Möglichkeit zunahm. Nun beginnt sich vor der Jahrtausendwende die Fähigkeit des Menschen zu entfalten, den Bauplan des Lebendigen, unabhängig der kosmischen Zusammenhänge und ungeachtet der eigenen Unwissenheit um die gegenseitige Abhängigkeit des Gewordenen, zu beherrschen und nach seinen Vorstellungen für seine eigenen Bedürfnisse zu gestalten. Dieser Gedanke und die damit zusammenhängenden geistigen Kräfte senkten sich wie eine bereits vollzogene Tatsache in dem Jahr 1998 in das allgemeine Bewusstsein hinein. Die Mechanisierung der physischen Grundlage einer sich zu inkarnirenden Seele lässt die Sorge aufkommen, inwieweit der Mensch den Inkarnationsstrom beeinflusst und dadurch bestimmten seelisch-geistigen Eigenschaften erst die Voraussetzung zur Entfaltung auf der physischen Ebene ermöglicht. Denn große Ereignisse vollziehen sich meist in aller Stille und ihre fördernde oder hemmende Wirkung entfaltet sich erst in der Zeit. So bleibt es dem Wissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker nur festzustellen: „Wir heutigen Physiker sind in unserem Fach Schüler Newtons und nicht Goethes. Aber wir wissen, dass diese Wissenschaft nicht die absolute Wahrheit, sondern ein bestimmtes methodisches Verfahren ist.“ Und er mahnt an: „Wir sind genötigt, über Gefahr und Grenzen dieses Verfahrens nachzudenken.“

Die Geisteskraft der Aufmerksamkeit und die Seelenfähigkeit der Hingabe
Parallel zu der immer stärker werdenden Anschauung, dass das, was uns als Leben entgegentritt, nur ein Ablauf von physikalisch-chemischen Prozessen darstellt, entwickelt sich das Bewusstsein von dem geistigen Ursprung des Menschen.
Sowohl die Mysterienweisheit, als auch die Schöpfungsmythen sprechen von zwei Grundprinzipien im Kosmos, dem des himmlischen Vaters und dem der göttlichen Mutter, die in allen Erscheinungsformen des Lebens enthalten sind und in Mann und Frau ihr physisches Abbild haben. Es wurde auch von der ursprünglichen menschlichen Ganzheit gelehrt, dass der Mensch seinem innersten Wesen nach nicht nur Mann oder Frau ist, sondern beide polaren Seelenkräfte in sich vereinigt und dadurch eine übergeschlechtliche Natur besitzt, die durch die Reinheit des Herzens im Gleichgewicht gehalten wird.
Wenn wir nach den Seelenkräften suchen, die entwickelt werden müssen, um das Bewusstsein der ursprünglichen menschlichen Ganzheit zu verwirklichen, aus dem die Anschauung des Raumes und die des Lebens verlebendigt wird, so werden wir zu der Geisteskraft der Aufmerksamkeit und der Seelenfähigkeit der Hingabe geführt, die dem männlichen und weiblichen Aspekt unserer Wesenheit entsprechen.
Durch die Aufmerksamkeit und Hingabe haben wir die Möglichkeit, uns in der Harmonisierung der Polaritäten, des Männlichen und des Weiblichen, dem Urbild unserer Seele zu nähern, und so die Erweckung des idealen Menschen zu vollziehen. Denn diese zwei Seelenkräfte sind unabhängig der Kultur- und Religionszugehörigkeit die Grundvoraussetzung aller inneren Entwicklung.
Im Buddhismus nimmt die Geisteshaltung der Achtsamkeit eine zentrale Bedeutung ein, die in so einem hohen Grade den Inbegriff der buddhistischen Heilslehre bildet, dass Buddha davon als dem einzigen Weg sprach, der zur Läuterung des Geistes führt. Aus dem westlichen Kulturkreis heraus stellt Novalis fest: „Wie wenig Menschen haben sich nur zu einer mannigfaltigen, schweigend-totalen Aufmerksamkeit auf alles, was um und in ihnen in jedem Augenblick vorgeht, erzogen!“ Und er fordert dann: „Auf alles, was der Mensch vornimmt, muss er seine ungeteilte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten…Höchst merkwürdig ist es, dass der Mensch erst in diesem Spiele seine Eigentümlichkeit, seine spezifische Freiheit recht gewahr wird und dass es ihm vorkommt, als erwache er aus einem tiefen Schlafe, als sei er nun erst in der Welt zu Hause, und verbreite jetzt erst das Licht des Tages sich über seine innere Welt. Er glaubt es am höchsten gebracht zu haben, wenn er, ohne jenes Spiel zu stören, zugleich die gewöhnlichen Geschäfte der Sinne vornehmen, und empfinden und denken zugleich kann. Dadurch gewinnen beide Wahrnehmungen: die Außenwelt wird durchsichtig, und die Innenwelt mannigfaltig und bedeutungsvoll, und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwei Welten in der vollkommensten Freiheit und dem freudigsten Machtgefühl.“
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Im gewöhnlichen Ich-Bewusstsein wird das Ich mit den Grenzen des physischen Leibes identifiziert, und es entsteht das Tagesbewusstsein, in dem die Innen- und Außenwelt als polare Gegensätze erlebt werden. Diese jedoch müssen überwunden werden, um das eine Leben, das sich zur gleichen Zeit in beiden Polen offenbart, zu erkennen.
In der Aufmerksamkeit haben wir eine Geisteskraft, die ihren Bezugspunkt weder in der Innen- noch in der Außenwelt findet, wodurch sie beide als Objekt zu schauen vermag. In stetiger Aufmerksamkeit löst sich das Ich aus der Begrenzung des physischen Leibes, so dass wir uns nun zwischen die physische und geistige Welt gestellt finden. Sind die Ich-Kräfte nicht genügend verstärkt worden, um nun in sich, frei vom physischen Bezugspunkt, die neue Mitte zu bilden, entsteht die Gefahr, den Wirkungen der polaren Kräfte zu unterliegen. Es ist einerseits die Versuchung, sich dem Erden- und Menschheitsschicksal zu entziehen und in der lichten Leichtigkeit dem Selbstgenuss zu erliegen. Andererseits macht die materielle Welt in ihrer Schwere und Ausschließlichkeit auf die labile Seele einen starken Eindruck und verleitet sie dadurch, den sinnlichen Eindrücken zu folgen, um darin ihre einzige Befriedigung zu finden.

Die Seelenhaltung der Meditation
In dem Zeichen des Kreises haben wir das Symbol für den kosmischen Raum und die darin waltende Weisheit. Ist die Hingabefähigkeit der Seele im Verhältnis zum Ich-Bewusstsein zu stark entwickelt, entsteht die Gefahr der Auflösung des eigenen Wesens, der Aufhebung der gewordenen Form und des Wiedereingehen-Wollens in den göttlichen Ur-Grund.

Im Zeichen des Punktes haben wir dagegen das Symbol für die konzentrierte Aufmerksamkeit unseres Wesens, die, wenn sie im Verhältnis zu der Hingabefähigkeit zu stark entwickelt ist, in die Verhärtung führt, in die Isolierung des Gewordenen von dem geistigen Ur-Sprung.






Der Einseitigkeit der Hingabe folgt Auflösung und der der Konzentration die Verhärtung; es sind die Grundwirksamkeiten der polaren Kräfte, die sowohl den Menschen als auch den gesamten Erdorganismus bestimmen. Zwischen diesen Polaritäten bewahrt sich das Ich, um die Seelenmitte nicht zu verlieren; doch, will es sich nicht nur bewahren, sondern diesen Widerspruch überwinden, muss es Anschluss an eine geistige Wesenheit finden, die diesen zu harmonisieren vermag. Es bildet sich dadurch die Seelenhaltung der Meditation, in der sich Hingabe und Aufmerksamkeit harmonisch durchdringen; es ist eine eher passive Seelenhaltung, die die innere Bewegung nicht nur auf Objekte richtet, sondern diese auch in ihrem Verhältnis zu dem sie umfassenden Raum wahrnimmt. So stellt Novalis fest: „Ein wahrhaft gottesfürchtiges Gemüt sieht überall Gottes Finger und ist steter Aufmerksamkeit auf seine Winke und Fügungen.“
Vermögen wir beide Seelenkräfte durch das Aufmerksam-Sein, sowohl nach Innen als auch nach Außen in der Waage zu halten, so bildet sich dadurch eine neue Qualität der Mitte, aus der heraus die Polaritäten als eine sich bedingende und ergänzende Offenbarung der einen Wirklichkeit erkannt werden. Aus diesem umfassenden Bewusstsein erlösen wir in der nun bewussten Hingabe die verhärtenden Kräfte unseres Wesens; es öffnen sich neue Seelenräume, die mit der gesteigerten Aufmerksamkeit durchdrungen werden, wodurch die Gefahr, das Ich-Bewusstsein in der Hingabe zu verlieren, überwunden wird. Folgen wir diesem mittleren Weg, werden wir zum Erleben des Bewusstseins geführt, in dem wir den „Himmelsraum“ jenseits der Polarität erfahren, der als die äußere Entsprechung der innersten Wesensweite erkannt wird.

Die „kosmische Jungfrau Sophia“
In diesem intuitiven Erleben erfährt sich die Seele als Raum und als Punkt, als Ich-Bewusstsein, welches den Raum durchdringt, wobei sich die beiden Pole ergänzen und nicht, wie auf der physischen Ebene, in der gegensätzlichen Polarität zu sehen sind; der Raum wird sich durch den Punkt, der Punkt durch den Raum bewusst. Wir werden zum ersten Mal unseres geistigen Selbst gewahr, so dass Rudolf Steiner diese Bewusstseinserfahrung als „Geistselbst“ bezeichnet.



Der christliche Mystiker Angelus Silesius beschreibt diese Erfahrung mit den Worten:

Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß;
Ein Ding und nit ein Ding, ein Stüpfchen und ein Kreis.

Es ist die Sphäre der geläuterten Seele und die Quelle der inspirierenden Weisheit, welche in der christlichen Überlieferung die „kosmische Jungfrau Sophia“ genannt wird. In ihr offenbart sich der unendliche Raum als reines Bewusst-Sein jenseits der physischen Polarität von Männlich und Weiblich.

Der gegenwärtige Christus

Hier finden wir die reinen kindlichen Kräfte unserer Seele und erwerben die Vorbedingung, den gegenwärtigen Christus zu schauen, denn „die Christus-Kraft muss sich“, sagt Rudolf Steiner, „mit dem verbinden, was die besten Kräfte der kindlichen Natur im Menschen sind. Sie darf nicht an die Fähigkeiten anknüpfen, die der Mensch verdorben hat, an das, was aus der aus dem bloßen Intellekt geborenen Weisheit herstammt, sondern sie muss an das anknüpfen, was aus den alten Zeiten der kindlichen Natur geblieben ist. Das ist das Beste; das muss sie wieder regenerieren und von da ausgehend das andere befruchten.“3
Aus den reinen kindlichen Seelenkräften, die uns aus dem Wiederfinden der kosmischen Sophia erwachsen, entsteht die „schauende Erkenntnis“ als Ausdruck der „gestaltenden Mitte“, in der wir die Sonne in uns wiederfinden.



Es entwickelt sich ein umfassendes Bewusstsein, in dem sich das eine Leben offenbart, das wie der Atem sowohl des Menschen Inneres als auch die Welt durchströmt.
Alexander von Humboldt schreibt in einem Brief an Caroline von Wolzogen, wie er tief in seiner Seele erkannte, dass von „Pol zu Pol nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem Gefühl durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich, durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war.“
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So ist uns aus den Herzenskräften heraus frei von jeder konfessionellen Gebundenheit die Möglichkeit gegeben, den gemeinsamen Boden zu erkennen auf dem eine gleichberechtigte Begegnung der Religionen stattfinden kann. „Und je mehr wir fortschreiten in der zukünftigen Menschheitsentwickelung“, stellt Rudolf Steiner fest „desto mehr werden die Religionen sich vereinigen, wie der Buddha und der Christus selber sich in unseren Herzen vereinigen.“
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In der Suche nach der den verschiedenen Religionen innewohnenden Wahrheit kann der Anthroposophie, die das Wissen um die kosmische Dimension des Christentums in die heutige Zeit hineinträgt, eine wichtige Aufgabe zukommen.

1 Jean Paul, Siebenkäs, Rede des toten Christus, München 1971, S. 273 f.
2 Paul Kluckshohn und Richard Samuel, Novalis-Ausgabe, Bd. 1, Stuttgart 1977, S. 96f.
3 Rudolf Steiner, Das Lukas-Evangelium, Dornach 1985, S 208.
4 Alexander von Humboldt, Aus meinem Leben, München 1989, S. 180.
5 Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit, Dornach 1977, S. 56.


Die Suche nach dem gegenwärtigen Christus II Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung