In der Heiligen Nacht



Auf der Suche nach geistiger Entwicklung werden uns heute viele verschiedene Methoden angeboten. Wir möchten unsere Fähigkeiten erweitern, streben unbekannte Bewusstseinszustände an, unterwerfen uns Autoritäten. Die Grundlage dafür liegt in alltäglichen Erfahrungen; so müssen wir, um ein Ziel zu erreichen, eine Wegstrecke zurücklegen, um etwas zu finden, uns auf die Suche begeben und, um reicher zu werden, Schätze anhäufen.
Was jedoch für die äußere physische Welt gilt, kann nicht selbstverständlich auf den inneren Weg übertragen werden. So entstehen zwei Fragen, denen im Weiteren nachgegangen werden soll: Was hindert den Menschen daran, seine geistigen Anlagen zur Entfaltung zu bringen, und welche Möglichkeiten sind ihm gegeben, aus sich selbst heraus für die geistige Welt zu erwachen?

Individualität - Person

Inkarniert sich die Individualität aus der geistigen Welt heraus auf Erden, so umkleidet sie sich im Durchdringen der verschiedenen Sphären mit dem gesamten, der Menschheit angehörigen seelischen Potential. Dem eigenen Schicksal gemäß werden einzelne Aspekte unterschiedlich stark betont, wodurch wir uns selbst einerseits eine unverwechselbare Person, andererseits den individuell zu gehenden Weg schaffen. In der Durchdringung und Identifizierung mit unserer Person entsteht der Gedanke: „Das bin ich“; sie stellt unsere Ausdrucksmöglichkeit dar und bestimmt durch die in ihr veranlagten Sympathie- und Antipathiekräfte unsere Richtung.
Die Tatsache jedoch, dass wir uns unserer Eigenschaften, bewusst werden können, zeigt, dass die Person selbst kein Eigenbewusstsein besitzt, vielmehr stellt sie eine Art „Kleid“ dar, in dem unsere Individualität auf der physischen Welt in Erscheinung tritt.
Der Schlüssel zu einer spirituellen Entwicklung liegt nun in einem ausgewogenen Verhältnis von Individualität und Person. Zieht sich die Individualität aus der Person heraus, besteht die Gefahr der inneren Haltlosigkeit. Wird dagegen die Individualität von der Person „vereinnahmt“, verwechseln wir sie mit unserem „Ich“, umgibt sie uns wie ein undurchdringlicher Schleier, der uns den Blick auf die geistige Welt verwehrt.

Das Suchen wandelt sich zum Gehen

Die Voraussetzungen für eine spirituelle Entwicklung ist eine harmonische und gefestigte Seelenmitte. Wenn wir unsere Person mit all ihren Stärken, Schwächen und Widerständen als den uns durch unsere eigene Individualität selbst gegebenen Weg annehmen, hören wir auf, außerhalb unserer selbst nach Methoden zu suchen, die uns bereichern oder einem vorgestellten Ziel näher bringen sollen. In uns selbst finden wir den Ausgangspunkt, von dem aus wir unseren ersten Schritt setzen können. Anstelle eines Weges des „Werdens“, wie wir es in der sinnlich - physischen Welt gewohnt sind, schlagen wir durch die Verobjektivierung der Person den Weg der „Entwerdung“ ein, und beginnen sie immer mehr zu beinhalten. Auf diese Weise sind wir unser eigener Lehrer und Weg zugleich. Das Suchen wandelt sich zum Gehen.
In einem Brief an Friedrich Schlegel schreibt Novalis: „Mein Lieblingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sophia heißt sie - Philosophie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst.“
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Die auf dem Weg zum Sophienbewusstsein sich ergebenden Entwicklungsschritte finden wir in den Fragmenten von Novalis in drei aufeinander folgenden Stufen beschrieben.
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Wachen
Wachsein
Bewusstsein

Wachen – die Kraft der Aufmerksamkeit

In seiner Forderung, der Mensch solle auf alles, was er vornimmt, seine ungeteilte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten4, weist Novalis auf eine grundlegende menschliche Fähigkeit hin, die sich sowohl auf die äußere, als auch auf die innere Welt richten kann. Das sich durch die Fähigkeit der Aufmerksamkeit verändernde Erleben gegenüber der Welt und der eigenen Person lässt Novalis feststellen: „...daß der Mensch erst in diesem Spiele seine Eigentümlichkeit, seine spezifische Freiheit recht gewahr wird, und daß es ihm vorkommt, als erwache er aus einem tiefen Schlafe, als sei er nun erst in der Welt zu Hause, und verbreite jetzt erst das Licht des Tages sich über seine innere Welt.“3
Die Geisteskraft der Aufmerksamkeit begleitet uns auf dem Weg zur Sophiensphäre von Anfang an. Sie hat ihren Bezugspunkt weder in der Innen- noch in der Außenwelt und vermag dadurch beide als Objekte zu schauen. Dadurch wird die Identifikation mit unserer Person schwächer. Um jedoch der damit verbundenen Gefahr, die eigene Seelenmitte zu verlieren, etwas entgegenzusetzen, konzentriert sich das Ich verstärkt zwischen den Augen. Dadurch entsteht die innere Haltung des Wachens.

Wachsein

Während der Begriff „Wachen“ auf eine aktive Seelenhaltung hinweist, lässt der des „Wachseins“ eher auf einen loslassenden Seelenzustand schließen. Aus dem Zentrum zwischen den Augen vermag das Ich im Wachen beide Pole, Innen und Außen, wahrzunehmen, bleibt jedoch gleichsam zwischen ihnen gefangen. Damit sich das Ich nicht nur zwischen der Polarität bewahren, sondern diese in ihrer Widersprüchlichkeit überwinden kann, benötigen wir eine neue Qualität.
Es ist die Seelenfähigkeit der Hingabe, die das Ich einen übergeordneten Standpunkt einnehmen lässt, wodurch es die Zentrierung zwischen den Augen aufzugeben vermag. Von der sich nun entfaltenden spielerischen Leichtigkeit stellt Novalis fest, dass der Mensch es am höchsten gebracht zu haben glaubt, „...wenn er, ohne jenes Spiel zu stören, zugleich die gewöhnlichen Geschäfte der Sinne vornehmen, und empfinden und denken zugleich kann.“
4 Dadurch gewinnen beide Wahrnehmungen, „...die Außenwelt wird durchsichtig, und die Innenwelt mannigfaltig und bedeutungsvoll, und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwei Welten in der vollkommensten Freiheit und dem freudigsten Machtgefühl.“5 Es ist die Seelenhaltung der Meditation, in der sich die Geisteskraft der Aufmerksamkeit und die Seelenfähigkeit der Hingabe ergänzen. In ihrer Verbindung bilden sie die Grundkräfte einer jeden heilenden Entwicklung.
Die eher passive Haltung des Wachseins wird nicht mehr wie auf der ersten Stufe des Wachens durch die Objekte begrenzt, sondern nimmt diese verstärkt in ihrem Verhältnis zum Raum wahr. Dadurch wird uns die Welt in einer neuen Weise lebendig. Die Grenzen der physischen Welt beginnen zu fließen und die Möglichkeiten der Beziehungen werden vielfältiger, wodurch die Ausschließlichkeit der materiellen Welt überwunden und die an sie angrenzende übersinnlich ätherische Welt stärker hervortritt.

Bewusstsein

Wachen und Wachsein bedeuten Verwandlung in Bezug auf die Überwindung der Grenzen, die uns durch unsere Person gegeben sind.
Um von der zweiten Stufe des Wachseins zu der des Bewusstseins zu gelangen, bedarf es der Gnade, denn diese Ebene kann durch unser Wollen allein nicht erreicht werden. Bis zur zweiten Stufe können wir uns aus dem Ich heraus mit der Kraft der Aufmerksamkeit bemühen, um die dritte Stufe des Bewusstsein zu verwirklichen, muss die innere Anstrengung in eine bewusst gesteigerte Hingabe übergehen.
Folgende Zeilen auf einem Blatt der „Geheimen Figuren der Rosenkreuzer“ verdeutlichen die hier zu erlangende Seelenstimmung:
„Ich weiß nichts, ich kann nichts, ich will nichts,...ich suche nichts, ich begehre auch nichts im Himmel und auf Erden...“
Diese Aussagen drücken treffend den Seelenzustand eines Menschen aus, der sich zwar die Kraft der Bewusstwerdung bewahrt, jedoch eine jegliche Identifikation aufgibt.
Vom Wachen zum Wachsein löst sich der den physischen Leib umfassende und ihn durchdringende Ätherleib, womit das Gefühl des sich allmählichen Ausdehnens über den Körper hinaus verbunden ist. Während die Grenzen zwischen Innen und Außen fließender werden, entsteht eine gesteigerte Empfindung der Verbundenheit mit dem Umraum. Dieser Vorgang geschieht allmählich, der Übergang vom Wachsein zum Bewusstsein jedoch plötzlich. Astralleib und Ich lösen sich vom physischen Körper und erblühen über das Haupt hinaus zum Bewusstsein.
Gewöhnlich benützen wir den Begriff „Bewusstsein“ im Sinne von Bewusstwerdung. Auf der hier gemeinten Ebene wird sich jedoch das Bewusstsein intuitiv seiner selbst als kosmisches „Raumessein“, als geläuterter Astralleib, bewusst. „Unbefleckte Reinheit“, leer allem Gewordenen, potentieller Quell des zu Werdenden charakterisiert das grenzenlose, von Sternenfunkeln durchdrungene blaue Meer.
Bei Novalis ist es die „Blaue Blume“, nach der er sich sehnt, und wir erkennen darin nicht nur ein Bild romantischer Sehnsucht, sondern ein reales inneres Erleben. Sie beschreibt die gereinigte Astralsphäre, die Göttliche Kosmische Jungfrau Sophia.
Wenn wir unseren Blick auf die unzähligen Mariendarstellungen wenden, dann finden wir in ihnen die ins Bild gebrachte Entsprechung zu diesem inneren Wandlungsvorgang des Menschen. Eingehüllt in einen blauen, sternenbesetzten Mantel, das Haupt von zwölf, der Fixsternsphäre zugehörigen Sternen umgeben, vermag Maria in jungfräulicher Reinheit das Christuskind zu gebären. In ihr haben wir die irdische Entsprechung zu der kosmischen Sphäre des Bewusstseins, aus der heraus wir den Christus, unser höheres Selbst, schauen können.
Indem wir mit den „Heiligen Drei Königen“, unsere Aufmerksamkeits – und mit den Hirten unsere Hingabekräfte stärken, bringen wir im Streben nach dem Sophienbewusstsein unser Opfer und Geschenk in der „Heiligen Nacht“ vor der Krippe dar.

1 Richard Samuel, Novalis Ausgabe, Bd. 4, Stuttgart 1975, S. 188
2 Richard Samuel, Novalis Ausgabe, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 572
3 Richard Samuel, Novalis Ausgabe, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 97
4 Ebd.
5 Ebd.
Bild: Maria - Guadalupe


Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung

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