Individualität und Christusoffenbarung

Ich-Bewusstsein und Hingabe


Was ist eigentlich Bewusst-Sein und was die Natur einer Individualität und die der Person? Welcher Entwicklungsweg kann gegangen werden, um diese verschiedenen Bewusstseinsstufen zu erfahren und wie können wir uns sicher sein, ob die geistigen Offenbarungen auf dem Weg, ja selbst die des Christus, nicht nur Projektionen unserer eigenen Ideale nach außen sind? Können wir allein aus unserem Ich-Bewusstsein heraus unser Potential zur Entfaltung bringen?

Mit diesen Fragen sehen wir uns an einem bestimmten Punkt der inneren Entwicklung konfrontiert und es wird von Wichtigkeit sein, ob wir sie für uns existentiell zu lösen vermögen.

Wir können das Ichbewusstsein in mannigfaltiger Weise erfahren. Hier wollen wir uns auf die zwei wesentlichen Ebenen konzentrieren, die des mikrokosmischen Ich der Person und die des makrokosmischen „göttlichen ICH“.

Die Quelle des Individualisierungsprozesses ist das ICH selbst, das gleichzeitig der Ursprung und der Weg ist. Es ist das Vertrauteste und zugleich das Fremdeste an uns. Es ruht in einem Quellgrund, bildet unseren Bezugspunkt, ist das Sein unserer Wesenheit und dennoch kann es nicht benannt werden. Es wird unter anderem dadurch erfahrbar, dass es in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Menschen unser Verhältnis zur Umwelt gestaltet.

Phasen der Selbstwerdung

In den einzelnen Phasen der Selbstwerdung wird für einen Moment ein Fenster zu dem Allerheiligsten unseres Inneren geöffnet, was jedoch meist nicht bewusst erfahren wird. Dennoch haben wir darin die Ursache der Seelenverwandlung des Menschen auf dem Weg zur Ausbildung seiner Individualität.

So leuchtet in der hingebungsvollen Seele eines dreijährigen Kindes das ICH auf und bildet noch traumhaft im Nachklang seines neu gewonnenen polaren Verhältnisses zur Umwelt das Wort „Ich“. Einem Achtjährigen wird in einem Augenblick offenbart, dass die meisten Erwachsenen die Ideale, welche sie ihn lehren, selbst nicht leben, wodurch sie ihm nicht mehr selbstverständliche Vorbilder sein können.

Die Seele wird immer mündiger, um dann um das dreizehnte Lebensjahr das innere „Wort“ zu vernehmen: „Ich werde nicht erzogen, ich muss mich selbst erziehen.“ Was dem Kind im neunten Lebensjahr wie ein aufleuchtendes Erwachen in einem noch bestehenden Traum war, wird nun eine bewusste Aufforderung zur selbstverantwortlichen Tat.

Um das 20. Lebensjahr offenbart sich das ICH nicht mehr vorwiegend im Erkennen und Neugestalten des eigenen Verhältnisses zur Umwelt, sondern unmittelbar. Wenn in diese „Schau“ nichts hineingelegt wird, so entspricht sie ausschließlich der inneren Erfahrung des „ICH“. Es spricht nicht zu uns im Namen einer Göttlichkeit, es setzt sich nicht moralisch über uns, sondern zeigt sich uns als unser ureigenster ewiger Kern. Das ICH als unser Wesenskern erkennt seine Identität und sein Verhältnis zu der kosmischen Dimension des Seins und erfährt sich selbst im „ICH-BIN“ als autark und absolut frei und dem „göttlichen ICH“ gegenüber, trotz dessen unergründlichen „Macht“, in seiner Würde gleich.

Diese hier geschilderte Erfahrung durchlebt jeder Mensch bewusst oder unbewusst auf seinem Individualisierungsprozess.

Wir haben in ihr eine „Schau“, ein intuitives Erfahren unseres Wesenkerns. Es ist jedoch keine „Eins-Werdung“ mit dem „Göttlichen“ in dem Sinne, dass wir uns dessen „Inhalts“ bewusst werden. Das Göttliche wird, was unser Vorstellungsvermögen anbetrifft, in seiner Machtfülle höchstens als eine unergründliche „Dunkelheit“ erfahren. Es ist in der Sprache des Christentums das ICH des Vaters, das sich als die unergründliche Quelle offenbart. In diesem Erfahren des ICH haben wir kein Erleben des Wesenhaften, kein Erleben des Christus.

Das Vater-Ich als Keim des Christus-Ich

In der Würde und Freiheit, die wir gegenüber dem Vater im Erfahren des ICH-BIN haben, offenbart sich die Individualität als der Keim zum Christus hin. Dieser kann uns den weiteren Weg weisen, wenn wir nicht der Versuchung unterliegen, bereits an diesem „Ort“ unser „Haus“ zu bauen, in dem Glauben ein „Ziel“, ein umfassendes Verständnis, erreicht zu haben.

Aus diesem Hintergrund können wir einzelne Äußerungen des jungen Rudolf Steiners, wie beispielsweise die des 19. Jährigen in einem Brief an seinen Freund Josef Köck besser verstehen, in dem er schildert, das Ewige im Menschen geschaut zu haben ohne jedoch von einem Christus-Erkennen zu sprechen; auch trifft dies auf seine Aussage „Anstelle Gottes den freien Menschen“ zu.

In der Schauung des ICH und dem Erfahren des ICH-BIN um das 20. Lebensjahr liegt die Geburt der Individualität, jedoch nicht deren Bewusstwerdung. Diese vollzieht sich erst in der Realisierung des einmaligen Standpunktes unseres Seins. Unser Schicksal und die damit zusammenhängende Aufgabe für das Ganze spiegelt sich durch unsere Person als diese besondere Farbqualität wieder. So geht die Bewusstwerdung der Individualität mit dem Erkennen unserer Person, dem Abbild dieses sich inkarnierten Erinnerungsstromes einher.

Ein jeder Mensch ist seiner Natur nach individuell, unverwechselbar und einmalig. Obwohl diese Einmaligkeit auch die Natur einer jeden Person ausmacht, ist diese nicht in der Lage sich ihrer Individualität bewusst zu werden. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die Person selbst kein Bewusstsein besitzt, sondern Objekt des Bewusstseins ist. Das Verhältnis ist dasjenige vom Raum zum Inhalt. Die Person selbst sagt nicht Ich zu sich. Es ist die Individualität, die in den Körper „hineinträumt“ und sich mit den Eigenschaften und Handlungen der Person im Physischen identifiziert. Im Spiegelbild dieser Vorgänge erfährt sich das „ICH“ als „Ich“. Und dennoch wäre es nicht richtig, der Person eine nur geringe Bedeutung beizumessen. Haben wir im physischen Körper die kosmische Weltenbühne, so in der Person die „Maske“ des sich durch sie ausdrückenden Schauspielers, der auf diesen „Brettern“ die inkarnierte Erinnerung und Aufgabe der jeweiligen Individualität offenbart. Die Person ist von der Individualität aus dem gesamten menschheitlichen Potential durch Betonung einzelner Aspekte gebildet worden. So wirkt die Individualität durch die Person als Mitgestalter und Träger des menschheitlichen Schicksals.

Umwandlung des Denkens

Innerhalb des heutigen Bewusstseins bezieht sich das Verständnis der Natur einer Individualität meist auf das unbewusste Erleben des ICH um das 20. Lebensjahr und das damit zusammenhängende Empfinden des allein-Seins. Gründen wir unsere Entwicklung jedoch ausschließlich auf diese Erfahrung, verschließen wir uns im Ich der weiteren Entfaltung unserer Seele.

Zwar können wir mit dieser Haltung durch aufrechtes Streben bis zu den ersten Stufen der Weisheit vordringen, doch spätestens hier wird zunehmend die Aussichtslosigkeit einer Weiterentwicklung deutlich. Wie kann ich mich durch mein Ich dem ICH so nähern, dass ich von seiner Fülle durchdrungen werde? Die Möglichkeiten des in sich konzentrierten Ichs sind begrenzt. Bereits das intuitive Erleben der ersten Ebene der Weisheitssphäre, ist nur durch eine hingebungsvolle Seelenstimmung zu realisieren. Diese bildet wiederum eine wichtige Voraussetzung, den neuen Menschen zu gebären, der erst durch die Überwindung des Ichs das Seelenleben und Denken so läutert, dass der Mensch in die Lage kommt, das ICH allmählich durch sich wirken zu lassen. So kann sich unser gewöhnliches Ich nicht unmittelbar dem ICH nähern, sondern nur durch die Entfaltung der Seelenkraft der Hingabe und der daraus möglichen Geburt des neuen, aus der Sphäre der Weisheit hervorgehenden Menschen. Umgehen wir diese notwendige Stufe der inneren Entwicklung, besteht die Gefahr der Überhebung und nicht der Transformation des Ichs. Die Seelenkraft der Hingabe und die damit verbundene Gnade bekommt somit auf dem weiteren Entwicklungsweg eine immer größere Bedeutung.

Doch an was kann ich mich hingeben, wenn ich Individualität als eine Ich-Konzentrierung und geistige Offenbarungen als Projektionen meiner eigenen Ideale nach außen verstehe? Ich kann mich nicht an mich selbst hingeben, denn Liebe zu erfahren ist nur durch Hingabe an ein Wesen außerhalb meiner möglich. Die Individualität gebiert sich zwar durch die Person, jedoch außerhalb dieser, um von außen auf sie umwandelnd einzuwirken. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die alles auf sich beziehende Person die erfahrbare Schönheit der geistigen Welt in Eitelkeit, Selbstliebe und Selbstüberhebung verwandelt.

Dieser Konflikt des modernen selbstbewussten Menschen ist nur zu überwinden, wenn die Gedankenbildung und damit die Sichtweise selbst eine Umwandlung erfährt. Der Weg geht durch das Erkennen der eigenen Person, die Überwindung der Eigenheit, so dass diese wie zur Außenwelt wird. Dadurch lösen sich die von der Person selbst auf dem Weg zur Individualisierung bewirkten Unterscheidungen von Innen und Außen, von wirklich und unwirklich, von Realität und Illusion auf.

So entspricht die Vorstellung, dass wir Seeleneigenschaften in uns besitzen, die sich nach außen projiziert als geistige Wesenheiten offenbaren können, nicht der inneren Erfahrung, wenn die Dominanz des Vorstellungslebens überwunden worden ist. Vielmehr erleben wir, dass wir Anteil an einer Realität haben, die weder Innen noch Außen, sondern eine in sich seiende Qualität und damit Bewusstsein ist.

Durch diese neu erworbene Sichtweise erkennen wir, dass auf der Ebene des Vorstellungslebens „Realität“ und „Illusion“ Ausdruck der sich im Relativen befindenden Gedanken sind. Auf der Ebene des reinen, vom Vorstellungslebens unbeeinflussten seelischen Erlebens stellt sich das Problem von Realität und „Illusion“ nicht, da jeder Augenblick absolut ist. Vermögen wir nun durch Selbsterkenntnis diese beiden Ebenen in uns auseinander zu halten, können wir uns dem seelischen Erleben wieder unvoreingenommen hingeben.

Christusoffenbarung

Wir erleben einen Sonnenaufgang. Unsere Seele ist erfüllt von der Schönheit und Reinheit des Augenblicks. Würden wir uns mitten im Erleben sagen, dass dies nicht wahr sei, da die Erde sich um die Sonne dreht, so würden wir zwar auf der gedanklichen Ebene das Wahre denken, jedoch nicht die Schönheit des Augenblicks und die darin seelenbildende Kraft in ihrer Wirksamkeit erfahren können. So verhält es sich auch mit der Vorstellung, dass selbst eine Christus -oder Engelsoffenbarung eine Projektion der eigenen Ideale nach außen und somit eine Illusion sei.

Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet ist Christus unser wahres Wesen. Würden wir jedoch diesen Gedanken, ohne eine zuvorgehende seelische Läuterung und die damit zusammenhängende Geburt des „Neuen Menschen“ jenseits der Person vorwegnehmen, so würden wir Christus unweigerlich auf unser Ich beziehen und dadurch den unvollkommenen Menschen zum Gott erheben.

Das jeweilige Erscheinungsbild des Christus stellt einen Teilaspekt seiner Wesenheit dar, den sich die Seele anhand ihr bekannter entsprechender Empfindungen aus der sinnlichen Welt zu einem imaginativen Bild formt. Die sich durch dieses Bild offenbarende geistige Realität liegt außerhalb der Vorstellung von Innen und Außen. Sie vermag uns jedoch nur so weit zu verwandeln, wie wir in der Lage sind, uns von ihr durch Hingabe durchdringen zu lassen, indem all die polaren Widersprüche unseres Vorstellungslebens überwunden werden.

Würden wir im Augenblick einer solchen Offenbarung denken, dass sie nur eigene Projektion ist, da außer dem ICH als Urquelle meines Seins und Wesens nichts anderes existiert, dann würden wir zwar einen hohen Grad der Abstraktion erreicht haben, den unsere Seele umwandelnden Augenblick jedoch versäumen. Es geht nicht darum, ein imaginatives Bild zu verehren, sondern uns von der sich darin offenbarenden Qualität durchdringen zu lassen. Auf den höheren Ebenen der Seelenentwicklung wirken andere Gesetzmäßigkeiten als die der Logik und des philosophischen Denkens.

Durch das Überwinden der polaren Vorstellungen von Innen und Außen und die sich dadurch entfaltende Seelenfähigkeit der Hingabe beginnen sich uns die Qualitäten der Christuswesenheit und deren Bedeutung für die Evolution der Erde zu offenbaren, die uns vom „Schauen“ des ICH um das 20. Lebensjahr zum Wesen des ICH-BIN im Licht führen können.


Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung

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