Zum Verständnis des Antichrist III

Die gespiegelte Lebenssphäre



Die Entwicklung der Elektronik und der Genbiologie, die unser Kultur in immer wachsendem Maße bestimmt, wird im 21. Jahrhundert unsere Vorstellung über Leben, Tod und Bewusstsein verändern. Besonders im Westen, der USA, wird der Wille konzentriert, die Informationstechnologie nicht nur in das allgemeine Arbeitsleben zu integrieren, sondern durch sie die unmittelbare zwischenmenschliche Beziehungen zu ersetzen. Zum anderen gewinnt der Gedanke, der mit der Entschlüsselung des menschlichem Genoms in den USA zusammenhängt, an Realität, ein Mitgestalter der Schöpfung zu werden.
Der Sozialwissenschaftler Francis Fukuyama weist sodann in seinem Buch „Ende der Geschichte“ auf die daraus folgende Gefahr hin: „Gott oder unser Evolutionserbe allein werden das Wesen des Menschen dann nicht mehr bestimmen. Was heißt: Wir selbst übernehmen fortan die Verantwortung für Gut und Böse“.
Den Beginn dieser Entwicklung konnten wir bereits im 15. Jahrhundert feststellen, in dem sich verstärkt die Fähigkeit entwickelte, die der Natur zugrundeliegenden mechanischen Gesetze zu erkennen und sie in Gestaltung von Maschinen für seine eigene Bedürfnisse umzusetzen. (Siehe Info3 9/99) Jedoch war das integriert-Sein des Menschen in die ihn umgebende Welt noch nicht in Frage gestellt.
Am Anfang des 18. Jahrhunderts war dann die Wahrnehmung der eigenen Person und die damit verbundene Fähigkeit des abstrakten Denkens soweit fortgeschritten, dass bereits eine Entfremdung zu den Grundlagen des Lebens wahrgenommen wurde. So lesen wir in den Schriften des Philosophen Jacques Rousseau die Forderung, dass sich der Mensch wieder der Natur zuwenden soll, um sich in die darin waltende Harmonie einzufügen. Doch begann sich bereits eine mechanische Sichtweise auszubreiten und auch die menschliche Wesenheit zu erfassen, in der es nicht mehr fern lag, die Persönlichkeit selbst aus den Naturgesetzen heraus begründet zu sehen. In dieser Zeit stellte Goethe fest: „Das Überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen…Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hilfe bringen.“
1
Doch war es nicht nur die Zeit der beginnenden mechanischen Sichtweise, in der sich der Bezug zum Leben zu verlieren begann, sondern auch die Zeit, in der viele Individualitäten allgemeine Menschheitsideale entfalten konnten und frei von allen Dogmen aus innerem Erleben heraus eine allgemeine Religion zu ergreifen suchten. So gelangt Ephraim Lessing in „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ zu der Anschauung des sich metamorphosierenden Seelenlebens in wiederholten Erdenleben. In dieser Anschauung drückt sich bereits die Transformation des Erden-Ich aus, die notwendig ist, um nicht in der Bewusstwerdung der eigenen Individualität dem Egoismus zu verfallen, sondern das Menschheits-ICH zu ergreifen. Aus dem Hintergrund dieser beiden sich entwickelnden Strömungen ist die Auseinandersetzung zwischen Newton und Goethe von Bedeutung.
Während Newton seine Naturerkenntnis aus der Seelenfähigkeit heraus entwickelte, die entsteht, wenn der Mensch sich aus der ihn umgebenden Natur herausgehoben und dann gegenüber gestellt hat, so sucht Goethe durch das unmittelbare Miterleben die wirkenden Bildekräfte in der Natur zu erforschen.
In einem Brief schreibt Goethe von seiner Italienreise am 17. Mai 1787 von Neapel aus an Herder: „Ferner muss ich dir vertrauen, dass ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und dass es das einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige seh' ich auch schon im Ganzen und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.“
Aus der heutigen Sicht können wir diese Anschauung als einen Keim verstehen, in dem die Fähigkeit verborgen liegt, das neue Licht des Bewusstseins wieder in die Harmonie der Natur einzufügen. Doch die heutige Wissenschaft und damit ein wesentlicher Teil unserer Kultur entwickelte sich aus den Anschauungen Newtons aus dem abstrakten Denken heraus, welches sich nicht wie bei Goethe aus dem inneren Miterleben des Werdenden vollzieht. So bleibt es dem heutigen Wissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker nur festzustellen: „Wir heutigen Physiker sind in unserem Fach Schüler Newtons und nicht Goethes. Aber wir wissen, dass diese Wissenschaft nicht die absolute Wahrheit, sondern ein bestimmtes methodisches Verfahren ist.“ Und er mahnt an: „Wir sind genötigt, über Gefahr und Grenzen dieses Verfahrens nachzudenken.“
Die Kulturentwicklung nach Goethe war dann durch die Weiterentwicklung der Technik und damit verbundenen Mechanisierung der menschlichen Arbeit bestimmt. Doch am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde wieder eine Bewusstseinsveränderung wahrnehmbar.
Maurice Maeterlinck stellte fest, dass sich das Verhältnis des einzelnen zum Ganzen verändert hatte: „Weißt Du wohl, wenn Du nicht gut bist, dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass Deine Gegenwart dies heute hundertmal deutlicher verrät, als sie es vor zwei oder drei Jahrhunderten getan hätte?…
In Wahrheit wird es schwer, im Herzen einen Hass, Neid oder Verrat zu nähren, der sich den Blicken entzieht; so unablässig sind die gleichgültigsten Seelen rings um unser Wesen auf der Lauer. Unsere Voreltern haben uns von diesen Dingen nicht gesprochen, und wir stellen fest, dass das Leben, in dem wir uns bewegen, grundverschieden ist von dem, das sie schilderten. Waren sie Betrüger oder Unwissende? Die Zeichen und Worte taugen zu nichts mehr, und fast alles entscheidet sich in den mystischen Kreisen einer einfachen Gegenwart.
Auch der frühere Wille, der so gut bekannte, so logische Wille von ehedem, verwandelt sich seinerseits und unterwirft sich den unmittelbaren Zusammenhängen großer und unerklärlich tiefer Gesetze. Es gibt fast keine Schlupfwinkel mehr, und die Menschen kommen einander näher. Sie beurteilen sich über ihre Worte und Handlungen, ja, über ihre Gedanken hinweg, denn was sie sehen, ohne es zu begreifen, liegt hoch über dem Reiche des Verstandes.“
2
Auch Rudolf Steiner verwies immer wieder auf die Bedeutung des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. In seiner Autobiographie schreibt er: „Mir schwebte damals vor, wie die Jahrhundertwende ein neues geistiges Licht der Menschheit bringen müsse. Es schien mir, dass die Abgeschlossenheit des menschlichen Denkens und Wollens vom Geiste einen Höhepunkt erreicht hätte.“
So entwickelt Rudolf Steiner in der Anthroposophie einen Schulungsweg, der zum Verlebendigen des menschlichen Denkens führen soll, das die Voraussetzung zum Erleben der geistigen Welt bildet.
Sowohl Maeterlink als auch Rudolf Steiner machen mit ihrer Wahrnehmung der Bewusstseinsveränderung innerhalb der Kulturentwicklung des beginnenden 20. Jahrhunderts auf ein sich Erweitern des menschlichen Bewusstseins aufmerksam. Doch anstatt ein hohes Menschheitsideal sich verwirklichen zu sehen, verdunkelte sich durch die beiden folgenden Weltkriege der „weite Himmel“, durch die erst die Bilder der neuen Welt und dann der Glaube an das Gute zerstört wurde. So musste die Menschheit durch Ereignisse gehen, die wie ein Zerrbild, ein gespiegeltes Gegenbild ihrer Hoffnungen waren.

Die Verführung des Antichrist
In den beiden Weltkriegen am Anfang des Jahrhunderts wirken Gegenkräfte, die das eigentliche Anliegen, die Suche der einzelnen Individualität nach den allgemeinen Menschheitsidealen, die wir in Christus verkörpert finden, verzerren.
Seit der Zeitenwende wirken sowohl die dem Christus als auch die dem Antichrist dienenden Seeleneigenschaften zusammen, um einen Seelenraum im Menschen zu entwickeln, in dem das Selbstbewusstsein aufleuchten kann. An diesem neuen Licht haben beide Kräfte Anteil, da es einerseits die Möglichkeit in sich trägt, als ein gleichberechtigtes Wesen an die geistige Welt anzuschließen und Mitgestalter im Erlösungsprozess zu sein; andererseits besteht die große Versuchung darin, die neuerlangten Fähigkeiten nicht dienend umzuwandeln, sondern weiterhin zu bewahren und für seine egoistischen Vorstellungen zu benützen.
Die beiden Strömungen, die wir mit dem Namen des Grals und des Antichrist verbunden haben, erreichen um die Jahrhundertwende die Ausgestaltung ihres Zieles. Dies ist der Augenblick, in dem jeder der beiden Strömungen seine ihr innewohnende Richtung verstärkt zu verwirklichen sucht, da die Individualisierung, aber auch die damit verbundene Isolierung von geistigen Zusammenhängen ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Das neuentstandene Verhältnis des Einzelnen zu der ihn umgebenden Welt, so wie es Maeterlink feststellen konnte, ist die Entsprechung zu der sich entfaltenden Individualität, die sich dienend der geistigen Welt zuwendet, um die Handlungen des Menschen zu moralisieren, sie in Einklang mit der geistigen Welt zu bringen. Auf der anderen Seite werden die aus dem erwachenden imaginativen Bewusstsein heraus geschauten geistigen Bilder zu einer verzerrten ich-bezogenen Realität umgewandelt, aus deren Konsequenz sich die größten Verfehlungen wie gespiegelte Bilder der geistigen Welt auf der physischen Ebene in den beiden Weltkriegen auslebten.
So sehen wir, wie das Zeichen der Swastika, welches sowohl der germanischen als auch der östlichen Weisheit als Symbol für das Leben bekannt war, unter der Herrschaft der Nationalsozialisten eine ihm entgegengesetzte Bedeutung erhält.
In einer Rede am 8. Mai 1933 in Berlin äußert der Propagandaminister Joseph Goebbels, dass das wesentliche Ziel der nationalsozialistischen Revolution ist, den Individualismus zu zerschlagen und an die Stelle des Einzelmenschen und seine Vergottung das Volk treten zu lassen.
In Goebbels Rede drückt sich der Wille aus, durch die Zerstörung der Individualität die Voraussetzung zur Bewusstwerdung des Menschheits-ICH, des Christus, zu verhindern und durch ein „Volksbewusstsein“ zu ersetzen.
Der Schwede Ingmar Bergman erinnert sich heute wie er 1936 als Austauschschüler in Deutschland an einem Parteitag der Nationalsozialisten in Weimar teilnahm, wo Adolf Hitler eine Rede hielt: „Ich hatte noch nie etwas gesehen, was diesem Ausbruch unermesslicher Kraft gleichkam. Ich schrie wie alle anderen, reckte den Arm wie alle anderen in die Höhe, brüllte wie alle anderen, liebte wie alle anderen.“
3
„Hitler hatte ein unerhörtes Charisma. Er elektrisierte das Meer der Zuhörer…Der äußere Glanz blendete mich. Ich sah nicht die Dunkelheit.“
4
Auch in Goebbels Tagebuchaufzeichnungen finden sich Sätze, die die fast übermenschliche Wirkung Hitlers offenbaren, in denen er seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass Luzifer selbst durch den Führer wirke.

Die Kraft, die sich der Bewusstwerdung der Individualität und des Christus entgegenstellt, offenbart sich dann in dem geographischen Bild Mitteleuropas nach dem zweiten Weltkrieg.
Durch das Herz Europas, durch die Mitte eines Volkes, das sein Schicksal besonders aus den Ich-Kräften heraus zu gestalten sucht, wird ein Spannungszustand erzeugt. Von Westen und Osten her, von den verhärtenden und den auflösenden Seelenkräften, die in den jeweiligen Hemisspären verstärkt zur Geltung kommen, wird die Mitte zusammengepresst. In diesem Spannungsverhältnis, in dem die Mitte zerrüttet werden sollte, bildete sich die Mauer, der „Eiserne Vorhang“, als Ausdruck des „Kalten Krieges“. Es ist das geronnene Bild des Antichrist, die äußere Entsprechung zu dem inneren Erleben wie wir es in des Menschenseele aufgezeigt haben. (Siehe Info3 9/99)
Parallel zu der Entfaltung des Antichrist sehen wir den Christus im Symbol des Grals unmittelbar in der Kulturentwicklung wirken. Der Ort, an dem die Gralssage in Mitteleuropa für die Öffentlichkeit verkündet wurde, ist die Wartburg, die sich auf der entstandenen Trennlinie zwischen der westlichen- und östlichen Hemisphäre befindet. Durch die Ereignisse des Jahres 1989, die zur Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland führten, bildet sie geographisch das „Herz Deutschlands“. Zum erstenmal in seiner Geschichte erkennt Deutschland aus freiem Willen seine äußeren physischen Grenzen als endgültig an und zeigt sich somit bereit, in der Zukunft aus einem neuen Identitätsempfinden heraus zu wirken.

Die Materialisierung der Lebenssphäre
Seit dem 15. Jahrhundert wurde der Mensch durch die verstärkte Bewusstwerdung der inneren Vertikalen in die Lage versetzt, zu seinem physischen Leib ein objektives Verhältnis zu erlangen. Dadurch erkannte er die Naturgesetze, denen die materielle Welt unterliegt und entwickelte mechanische Apparate, die er wie aus sich heraus in die äußere Welt setzte. Im Übergang vom 19. zum 2o. Jahrhundert hatte die mechanistische Anschauung durch die Verobjektivierung der eigenen Leiblichkeit seinen Höhepunkt erreicht, was sich in der Abstammungslehre Darwins ausdrückt. Zu dieser Zeit hatte sich das ICH-Bewußtsein bereits soweit vom physischen Leib gelöst, dass die Bewusstwerdung des „Lebensleibes“ möglich wurde. Da diese Bewusstseinsveränderung die Voraussetzung ist, den Christus im Erdenumraum in der Lebenssphäre der Erde zu schauen, setzt hier die Versuchung des Antichrist in besonders starkem Maße ein, indem er durch Ahrimans und Luzifers Zusammenwirken einen Spannungszustand herstellt, durch den das lebendige Licht im Intellekt gerinnt, wodurch die Mitte geschwächt wird. Diese Kraft, die unter dem seelischen Spannungszustand wie „flüssiges Licht“ fließt, benützt der Mensch, um den geschaffenen Maschinen „Intelligenz“ zu verleihen.
Mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges und besonders in der Zeit danach begann eine neue Phase in der technischen Entwicklung, die der Elektronik. Unmittelbar nach dem Krieg, im Jahre 1946, wurde der erste Elektronenrechner realisiert, der die moderne Wissenschaft, die Informations- und Gentechnologie ermöglichte.
Diese Entwicklung kann man besser verstehen, wenn man sich den Stufen des sich- inkarnierenden Bewusst-Seins zuwendet.
In der Manifestation des Bewusstseins auf der Erde können folgende Stufen unterschieden werden: von dem Bewusst-Sein zum Licht, vom Licht zur Elektrizität, dann zum Atom und der unseren Sinnen sichtbaren Welt, deren Elementen und Formen wir den Namen geben.

1. Bewusst-Sein
2. Licht
3. Elektrizität
4. Atom
5. Elemente
6. Form
7. Name

Dieser Bewegung liegt ein Gerrinnungprozess des sich offenbarenden Geistes bis in die physische Ebene hinein zugrunde. Die Christuswesenheit führt die Schöpfung in der Erlösungsbewegung von dem Namen durch die Form und die Elektrizität zum Licht hin, zu der Sphäre des Lebens. Bildet sich jedoch das Denken aus den Kräften des geronnenen Lichtes, der Elektrizität, so haben wir darin sowohl die Möglichkeit als auch die Versuchung zur Entfaltung der reinen Intelligenz unabhängig moralischer Werte, worin wir das Vorbild für die zu werdenden intelligenten Maschinen haben. Dadurch wird eine neue Ebene des Seins eingeleitet, eine Welt zwischen den Welten, eine Seinsebene der Abstraktion, eine gespiegelte Gegenwelt zu der des Christus, verursacht durch die Gerinnung des Lichtes.
So wird die eigentliche Mitte des Menschen geschwächt, langsam an die sich entwickelnde elektronische Welt gebunden und dadurch eine nicht auf dem Leben, sondern der Technik basierende Welt angestrebt. Diese technische Entwicklung beinhaltet, wenn sie nicht dienend, sondern zukunftsweisend verstanden wird, die Voraussetzung zur Schaffung dieser gespiegelten Gegenwelt. Dadurch wird der ureigensten geistigen Möglichkeit des Menschen, durch bewusste innere Entwicklung das Ewige in sich schrittweise zu realisieren, die Grundlage entzogen, was jedoch die Voraussetzung zur notwendigen sozialen Entwicklung ist. Während die Technik im Großen das gleiche Ideal, sogar Unsterblichkeit verspricht, schafft sie nicht einen sozialen, sondern einen vom geistigen Leben abgeschnürten, in seinem egoistischen Bewusstsein eingeschlossenen Menschen.

Jenseits von Leid und Tod
Mit dem sich entwickelnden Ich-Bewusstsein und der damit verstärkt einhergehenden Wahrnehmung der eigenen Individualität und dadurch des ewigen Anteils des Menschen, entsteht ein Unverständnis dem Erleben gegenüber, sterben zu müssen und diesem Prozess ohne eigene Entscheidungsfreiheit ausgesetzt zu sein. So erwacht aus dem sich erlebendem Ich im Menschen der Wille, den Tod nicht als naturgegebenes Schicksal hinzunehmen. In der Suche nach einer Kontinuität des Bewusstseins gaben die verschiedenen Religionen eine Antwort und entwickelten einen inneren Weg, den die Menschen in ihrem Leben zu integrieren suchten, der jedoch durch Leid, Schmerz und Tod hindurchgeht.
In dem Bestreben, dem Menschen die zur inneren Reifung und Stärkung der Mitte nötigen Erfahrungen zu entziehen, erkennen wir die Entsprechung zu der Intelligenz, welche eine Art „digitales Nervensystem“ um die Erde bildet. Darin haben wir ein Abbild der Kräfte, die besonders im menschlichen Haupt wirken, und die auf eine subtile Weise den sozialen Organismus der Menschen zu ersetzen suchen.
Schauen wir auf die Symptome der gegenwärtigen Kultur, so erkennen wir in den Filmen wie „Matrix“ oder „Die Truman Show“, wie sich darin die Ahnung einer höheren Realität ausdrückt, zu der sich unser Vorstellungsleben als eine Illusion erweist.
In dem Film „Matrix“ steuert ein Großcomputer, der an das Gehirn der Menschen angeschlossen ist, ihr Vorstellungsleben, so dass von Ihnen zwar ein normales Alltagsleben erlebt wird, ihr physisches- und Willensleben jedoch ruht. Somit wird in der Elektrizität die Ursache des Vorstellungslebens gesehen, ohne dass jedoch die weitere Handlung des Films einen Weg aufzeigen kann, durch den dieser illusorische Kreislauf von Erleben der Welt durch den Computer oder durch das Gehirn überwunden werden kann.
In dem Film „Die Truman Show“ lebt der Hauptdarsteller seit seiner Kindheit in einer eigenst für ihn gestalteten Stadt; sein Tagesablauf wird von Medien übertragen und so für alle Menschen ständig beobachtbar. Eines Tages wird von ihm die Illusion erkannt und die Kuppel, die den Horizont seiner kleinen Welt bildet, durchstoßen. Beide Filme sind Ausdruck von Fragen des heutigen Menschen nach dem Zusammenhang von Vorstellungsleben und Elektrizität, von Illusion und Wahrheit, in denen sich die beginnende Bewusstwerdung des Lebensleibes ausdrückt.
Da der Lebensleib jedoch vom heutigen Menschen nicht in einer selbstlosen Seelenhaltung unmittelbar erlebt, sondern durch das Tor des abstrakten egoistischen Denkens erfahren wird, werden dessen Lebensprozesse in neuartigen Erfindungen und Entdeckungen, wie Elektronik und Gentechnik aus sich heraus in die äußere Welt gesetzt, um den Maschinen 'Leben' und reine Intelligenz 'einzuhauchen'. Dadurch wird das mechanische Zeitalter in eine neue Dimension übergeführt, die nicht wie bisher das Abbild des physischen sondern des Lebensleibes ist.
Während im Lebensleib die metamorphosierenden Bildekräfte von innen heraus wirken, eröffnen sich dem Menschen durch die Gentechnik die Möglichkeit, die Lebensformen von außen nach seinen Vorstellungen zu gestalten, ohne die ihnen zugrundeliegenden Ideen zu erkennen. So wird eine neue Welt, eine gespiegelte Lebenssphäre geschaffen, die ihre Berechtigung in der gesamten Harmonie des Lebens nicht findet und die Grundlage für die stärkste Polarisierung in sich birgt. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen der Vorgehensweise Goethes und der der heutigen Wissenschaft.
Goethe suchte durch den Weg der Imagination, in der das trennende abstrakte Denken transformiert wird, die dem Lebendigen zugrundeliegende geistige Idee, aus der heraus er die Formen zu bilden vermag, ohne die Harmonie des Lebens zu stören.
Würde jedoch die „Zwischenwelt“, die gespiegelte Lebenssphäre, für den Menschen eine in sich seiende Realität erhalten, wäre dies der Sieg des Antichrist über die ideelle Welt des Christus.

1 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch 13. Kapitel.
2 Maurice Maeterlinck, Der Schatz der Armen, Jena 1906, S. 20 f.
3 Ingmar Bergman, Mein Leben, Hamburg 1987, S. 148.
4 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 9. 1999, S. 43.



Zum Verständnis des Antichrist IV Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung