Die Bewusstwerdung der „Leere“ als Grundlage zur Entwicklung der höheren Seelenglieder des Menschen
oder die Suche nach dem inneren Dialog der Religionen
Der Dialog zwischen Christentum und Buddhismus, der seit einigen Jahrzehnten immer stärker an Intensivität gewinnt und von immer mehr Menschen als eine bedeutsame Herausforderung erlebt wird, schreitet wie eine durch innere Gesetzmäßigkeit geforderte Notwendigkeit voran. Dieser Prozess des sich Durchdringens der westlich-christlichen Kultur und der buddhistischen Religion wird durch den gemeinsamen ethischen Boden, auf dem beide Religionen stehen, unterstützt.
Der Theologe Romano Guardini sieht in dem Buddhismus eine Herausforderung für das Religionsverständnis des Christentums: „Buddha. Dieser Mann bildet ein großes Geheimnis“, sagt er. „Er steht in einer erschreckenden, fast übermenschlichen Freiheit; zugleich hat er dabei eine Güte, mächtig wie eine Weltkraft. Vielleicht wird Buddha der letzte sein, mit dem das Christentum sich auseinanderzusetzen hat. Was er christlich bedeutet, hat noch keiner gesagt.“1
Mit dem fortschreitenden Dialog findet sich das westliche Geistesleben immer wieder mit einem Begriff konfrontiert, der in der buddhistischen Anschauung das Zentrum und der Ausgangspunkt ist, dem Begriff der „Leere“.
Im Westen führt dieser Begriff seit der Begegnung mit der östlichen Weisheitslehre zu großen Missverständnissen, da der Ausdruck „Leere“ im Sinne von Leer-Sein eines jeden, auch geistigen Inhalts, verstanden wird. Hierbei trägt die Übersetzung des Sanskrit-Begriffes Nirwana als vollkommenes Erlöschen nicht zum besseren Verständnis der damit gemeinten Erfahrung bei. So steht man in Bezug zu dem Begriff der „Leere“ einer Herausforderung gegenüber, der zunächst nichts innerhalb des eigenen Geisteslebens zu entsprechen scheint. Dies führt dem Buddhismus gegenüber zu vielen Vorurteilen, bis zu der Frage, ob dieser nicht eher eine nihilistische Weltanschauung sei, die ein Leersein von allem Gewordenen anstrebe und in dem Erlöschen des eigenen Ichs sein Ziel sehe.
Der östlichen Anschauung dagegen erscheint der dogmatische Anspruch des Christentums mit gleichzeitigem Unvermögen, auf die erlebbaren Seinszustände verständnisvoll einzugehen, nicht nachvollziehbar.
Etymologisch betrachtet ist „Svi“ die Sanskritverbalwurzel von „Sunyata“, dem Sanskritwort für die „Leere“ oder das „Nichts“, was „Schwellen“ bedeutet, so dass der Buddhist Lama Anagarika Govinda Sunyata mit „trächtiger Leere“ übersetzt.
In Indien entwickelte sich aus der inneren Erfahrung der „Leere“, die als dem Sein zugrundeliegend erkannt und im Symbol des Kreises ausgedrückt wurde, der mathematische Begriff der „Null“, deren Sanskritname „Sunya“ ist; sie wird ebenfalls wie die „Leere“ durch den Kreis dargestellt und liegt den Zahlen, welche durch sie erst ihren Wert erhalten, zugrunde. Die Vorstellung von „Sunya“ gelangte über die arabische Welt nach Europa und wurde unter dem lateinischen Namen der „Null“, was „Nichts“ bedeutet bekannt. Dies war die Voraussetzung für die moderne Mathematik, die sich zwischen der Null und der Unendlichkeit entfaltete und damit wiederum den Kreis beschloss.
In dem Gleichnis des buddhistischen Patriarchen (Hui Neng) finden wir das was der Osten unter dem Begriff der „Leere“ versteht anschaulich dargestellt: „Wenn ihr mich von der Leere sprechen hört, so lasst euch nicht zu der Auffassung verleiten, dass ich die Leerheit (eines bloßen Vakuums) meine. Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir nicht einer solchen Auffassung verfallen; denn wenn beispielweise ein Mann dasitzt und seinen Geist völlig leer hält, so würde er nur in einem Zustand der Leere im Sinne völliger Gleichgültigkeit oder Indifferenz verharren. Die unendliche Leere des Universums aber ist fähig, Myriaden von Dingen verschiedenster Form und Gestalt zu bergen: Sonne und Mond, Sterne und Welten; Berge, Flüsse, Bäche und Quellen; Wälder und Sträucher; gute Menschen und schlechte Menschen; Gesetzmäßigkeit im Guten wie im Schlechten; himmlische und höllische Welten; die tiefsten Weltmeere und die höchsten Berge. Der Raum umfasst alle diese, und in gleicher Weise tut dies die ,Leere’ unserer eigenen Natur. Wir sagen, dass das wahre Wesen unseres Geistes groß ist, weil es alle Dinge umfasst, weil alle Dinge in unserer Natur beschlossen liegen.“2
Doch erst durch Persönlichkeiten, die bereit sind, in die ihnen fremde Kultur einzutauchen, sie intensiv zu studieren und die religiöse Praxis zu leben, wird es möglich, in einer für den jeweiligen Geisteshintergrund verständlichen Sprache die nicht vertrauten religiösen Anschauungen zu erläutern, wodurch eine Vertiefung des inneren Dialogs stattfindet.
So beginnen sich einem die Worte des Meister Eckehart aus der Begegnung mit der Weisheitslehre des Ostens neu zu erschließen, der nach der Entwerdung seiner Person strebt, indem er sich völlig leer zu machen sucht (sich lassen), um das Göttliche, das er als „reines Nichts“ (ein bloß nicht) versteht, zu erfahren.
Der christliche Mystiker Angelus Silesius drückt dieses Erleben in folgenden Worten aus:
Gott ist lauter Nichts,
ihn rührt kein Nun noch Hier;
Je mehr du nach ihm greifst,
je mehr entwird er dir.
oder:
Wem Nichts wie Alles ist und Alles wie ein Nichts,
Der wird gewürdiget des liebsten Angesichts.
Auch werden die Briefe eines anonymen englischen Mystikers des 14. Jahrhunderts, die unter dem Titel „Die Wolke des Nichtwissens“ zusammengefasst sind, fielen christlich orientierten Menschen erst durch die Begegnung mit dem Osten verständlich. Darin wird wie bei Eckehart der Weg der inneren Entleerung gesucht, um sich von allem begrifflichen Denken freizumachen, auch wenn dieses auf subtiler Ebene die Form von Engeln oder Heiligen annimmt. In den Briefen wird der Schüler gemahnt, auf ein Überall und Irgend zugunsten von Nirgends und Nichts zu verzichten. „Nimm keine Rücksicht darauf, dass deine Sinne nichts mit diesem Nichts anfangen können, denn ich liebe es um so mehr. Es ist nämlich von so unendlichem Wert, dass sie nichts davon begreifen können. Dieses Nichts kann eher erfahren als gesehen werden, denn es ist ganz unendlich und dunkel für jene, die nur kurz darauf geblickt haben. Die Seele, die es fühlt, wird jedoch, um es noch treffender zu sagen, eher von dem Überfluss an geistigem Licht geblendet, als dass sie sehunfähig wäre durch die Dunkelheit oder einen Mangel an wirklichem Licht. Wer nimmt sich heraus, es das Nichts zu nennen? Sicher unser äußerlicher Mensch, nicht unser innerer; unser innerer nennt es das All, denn es hat ihn gelehrt, alles Existierende, sei es körperlich oder geistig, zu erkennen, ohne irgendein Ding oder Wesen für sich gesondert zu betrachten.“3
In einem Vortrag Rudolf Steiners finden wir Aussagen, die ebenfalls dieser von der östlichen Weisheit beschriebenen Erfahrung zu entsprechen scheinen. Darin fordert Rudolf Steiner den nach Erkenntnis der geistigen Welten Suchenden zum Erleben eines Punktes auf, „der alles enthält, und aus dem alles hervorquillt, der nichts und alles ist, der die Einheit von Sein und Kraft enthält. Es gehört zu den Geheimnissen“, betont Rudolf Steiner, „sich hineinzuversetzen in einen solchen Zustand, dass man erleben kann, wie aus dem Nichts das All entspringt…“4
Durch das Wiedererkennen der östlichen Weisheit in den eigenen spirituellen Überlieferungen erwächst Verständnis und Vertrauen für die zuerst befremdenden Anschauungen, so dass die östliche Anschauung der „Leere“ für den westlichen Menschen allmählich ihren nihilistischen Zug verliert und vermehrt in der Entsprechung zum christlichen Verständnis von Gott ohne Bild und Name gesehen wird.
So ist sowohl nach dem christlich-spirituellen als auch nach dem östlichen Verständnis das „Mysterium des Nichts“ (jap. mu) der Urgrund, die Quelle, aus der alle Dinge entstehen, weil dieses ungeboren, unfassbar, unausschöpflich, dennoch immer und überall gegenwärtig ist.
Dieses göttliche Bewusstsein das dem Geschaffenen zugrunde liegt drängt durch die Entfaltung der höheren Seelenglieder, die von Rudolf Steiner als Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch bezeichnet werden, nach der Offenbarung seiner Selbst in der Menschenseele.
Durch den physischen Leib und seine Sinne ist die Möglichkeit gegeben, Eindrücke der Äußeren Welt zu erhalten; die Tatsache jedoch, dass im Innern des Menschen Empfindungen als Entsprechung auf die äußeren Reize dazu aufleben, zeugt von einem Seelenerleben, welches zwar noch nicht als Bewusst-Sein aufleuchtet, jedoch bereits ein solches zur Grundlage hat.
Denn um sowohl das Sein der physischen als auch der seelisch-geistigen Welt wahrnehmen zu können, brauchen wir den inneren Hintergrund der „Bewusstseinsleere“, vor dem sich die Welt in ihrer Vielfalt erst offenbaren kann. Bezieht sich das Wahrnehmen jedoch noch nicht auf einen bewusst Wahrnehmenden, dann ist es unmittelbar an die Sinnesreize gebunden. Rudolf Steiner nennt diese Stufe des Erlebens die der Empfindungsseele.
„Die erste Vorschule zur Geistigkeit“ sieht Friedrich Nietzsche darin, auf einen Reiz nicht sofort reagieren zu müssen, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand zu bekommen. So betont er, dass alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit auf dem Unvermögen beruht, „einem Reiz Widerstand zu leisten.“
In dem Augenblick, in dem sich die „Leere“ oder das Ungeborene inmitten der sonst bewegten Seele als Ruhepol zu offenbaren beginnt, erwacht in dem nun entstehenden Spannungsverhältnis von Sein der gewordenen Welt zu dieser unfassbaren Tiefe des Nicht-Seins das Erden-Ich und dadurch die Fähigkeit, dem Reiz zu widerstehen. So hat der Mensch die Möglichkeit, unabhängig von seinen seelischen Gebundenheiten die geistigen Zusammenhänge in der Welt zu erkennen, wodurch er einen mehr objektiveres Verhältnis zu seiner eigenen Person und die sie bildenden Eigenschaften erlangen kann. Je stärker das Sich-Lösen aus der Gebundenheit der horizontalen Ebene der Empfindungsseele voranschreitet, umso mehr werden die vertikalen Kräfte unserer Wesenheit gestärkt, wodurch in der sich aufrichtenden Seele ein sich Öffnen für das Wahre und Gute, frei eigener Neigungen, ermöglicht wird. Diese Seeleneigenschaften stehen in einem engen Zusammenhang zu demjenigen Bewusstsein, welches in der Empfindungsseele noch als unbewusster Hintergrund vor dem Erlebten als „Bewusstseinsleere“ ruht. Darin haben wir eine Erweiterung der Seele, in der das ICH als das Urbild des Erden-Ich, als das Ewige aufleuchtet, was Rudolf Steiner als Bewusstseinsseele bezeichnet.
Das ICH, das in der Seelenvertikalen, der Bewusstseinsseele aufleuchtet und sich gewöhnlich durch die Begrenzung an das Haupt als Erden-Ich erlebt, erblüht durch das sich-leer-machem der Vorstellungswelt in die kosmische Dimension hinein. Hier haben wir eine kosmische Entsprechung zu der Bewusstseinsseele, welche Rudolf Steiner als die Sphäre des Geistselbst bezeichnet. Was in der Bewusstseinsseele als das Gute und Wahre angestrebt wurde hier wird es mit dem eigenem ICH verbunden.
In der Sphäre des Geistselbst wird ein Bewusstseinsraum erfahren, in dem die Grundpolaritäten von Sein und Nicht-Sein, von männlich und weiblich, von Ahriman und Luzifer im Bewusst-Sein ihre Gegensätzlichkeit überwinden und in einem sich entsprechenden und sich bedingenden Verhältnis stehen.
Es offenbart sich dem inneren Schauen eine blaue Raumesweite, die nicht selbst Licht ist, sondern die Voraussetzung seines Hervorkommens bildet. Wir berühren hier, bildhaft gesprochen, den „Mantel Gottes“. So wird die Erfahrung der geläuterten Astralsphäre durch einen blauen mit Sternen besetzten Mantel der Gottesmutter Maria dargestellt. In der christlichen Mystik ist uns diese Erfahrung unter dem Namen der göttlichen „Jungfrau Sophia“ bekannt, die ein kosmisches Abbild für die geläuterte Seele ist.
Um die Sphäre, in der sich der Mensch seiner ursprünglichen Reinheit und Unschuld bewusst wird und in der der unendliche Raum und das Bewusst-Sein jenseits aller subjektiven Empfindungen und Vorstellungen eins werden, in die Anschauung zu bringen, vergleicht sie die buddhistische Tradition mit der blauen Himmelssphäre und drückt diese Seinserfahrung, wie auch das Christentum, im Bild der „Mutter des Himmelsraumes“ aus.
Meister Eckehart bezeichnet diesen Bewusstseinszustand in seinen Predigten als „Jungfrau“, die so viel besagt wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, da er noch nicht war.“5 Um jedoch zu diesem Seelenzustand zu gelangen, bedarf es nach Eckehart der inneren Abgeschiedenheit von allem Geschaffenen. Ein Seelenzustand, in dem zum ersten Mal die Leere des Raumes intuitiv als reines Bewusst-Sein, als ICH, erfahren wird. Das führte innerhalb des Buddhismus zu der Vorstellung, diese Erfahrung entspreche der des Nirwana, so dass in andern Texten darauf aufmerksam gemacht werden musste, dass sich Nirwana jenseits der Sphäre des Seins und Nicht-Seins, also der des Geistselbst oder der der Sophia befinde und der Begriff der „absoluten Leere“ eingeführt wurde.6
Mit der Erfahrung des Geistselbst wird das Haupt verstärkt zum Abbild der Raumesweite, die als kosmische Entsprechung zur eigenen Wesensweite erkannt wird. In der weiteren Entwicklung fängt nun eine neue Phase an, in der die Hingabefähigkeit an die Welt verstärkt wird, was bei Novalis zum Ausdruck kommt, wenn er sagt: „Gib nur acht auf ein blaues Blümchen, was du hier oben [auf dem Berg zur Johannizeit] finden wirst, brich es ab, und überlass dich dann demütig der himmlischen Führung.“7 Senkt sich die „Leere“ des geläuterten Bewusstseins in den Brustbereich hinab, errichten wir den „Altar“, an dem das „heilige Feuer des Herzens“ entzündet wird, worüber Novalis sagt: „Wir sind mit nichts, als mit der Erhaltung einer heiligen und geheimnisvollen Flamme beschäftigt.“8
Die „Leere“, oder die Reinheit des Geistselbst umschließt in der weiteren Entwicklung die „Mitte“ und öffnet dadurch das Tor zur inneren Sonne, aus der uns der Strom des lebendigen Lichtes, die Quelle der Lebenskraft und des ICH-Bewusstseins erfüllt.
Haben wir in der Erfahrung des Geistselbst den „Mantel Gottes“ berührt, den die Gottesmutter um sich trägt, so vertieft sich die Schauung durch das Erwachen der „inneren Sonne“, dem Herzen Gottes, aus dem das Christus-Licht in unsere Wesenheit hineinströmt. Desto mehr dieser Strom die ätherische Leiblichkeit durchdringt, wird diese zum Lebensgeist umgewandelt. So wie der ätherische Leib dem physischen Körper bildend und belebend zugrundeliegt, so haben wir in dem Lebensgeist die Voraussetzung, den geistigen Leib aufzubauen, den Rudolf Steiner als den Geistesmenschen bezeichnet.
In der Bewusstwerdung der „Leere“ auf der Ebene des Geistselbst, oder in dem sich-frei-Machen von allen Vorstellungen liegt die Vorbedingung für die Seele, sich von der Bindung an das Haupt zu lösen und dadurch im spirituellen Herzen die Quelle des Lebens, den Christus, das ICH zu erfahren.
„So paradox es klingen mag“, schreibt Helmut von Schweinitz in seinem Buch ȁuddhismus und Christentum“, Buddhas Lehre vom gottlosen Absoluten als einem überpersönlichen Geistgrund steht dem lebendigen Gottesgedanken vielleicht näher als das anthropomorphe Gottesbild, das sich so viele Christen machen. Es könnte sein, dass Buddha hierin uns und unserer Zeit zu einem Wegweiser zu werden vermöchte, indem er uns zu dem Nullpunkt jenseits aller Erscheinungen zurückführt. Erst wenn wir den schweigenden, unerforschlich-erhabenen Daseinsgrund wieder gefunden haben, können wir das Licht aufleuchten sehen, das in dem aus der anfanglosen Weltursache heraustretenden schöpferischen Lebensprinzip, das wir Christus nennen, in Erscheinung getreten ist.“9
Wenn wir aus dem Hintergrund dieser bisher behandelten inneren Seelenvorgänge auf die buddhistische Lehre hinschauen, so können wir auf eine für den inneren Dialog wichtige parallele Vorstellung stoßen; es ist der Begriff von bodhi-citta, dem Erleuchtungsbewusstsein, das in jedem Wesen latent als Drang zum Licht und zur Freiheit schlummert, das jedoch durch die Leidenschaften der Seele und der der Vorstellungswelt verhüllt ist.
Nach der Erfahrung der Erleuchtung kehrt Buddha wieder zu den Menschen zurück, um sie auf das jedem Menschen innewohnende Licht, das Erleuchtungsbewusstsein (bodhi-citta) hinzuweisen, das im Herzen als das Prinzip der allumfassenden Liebe aufleuchten kann, dessen Bewusstwerdung zum Pfad eines Bodhisattva führt, in dem gelobt wird, zum Segen aller Wesen sich aus freiem Willen so lange zu inkarnieren, bis alle Wesen erlöst sind.
Rudolf Steiner sagt in einem Vortrag, dass die Erkenntnis, dass eine persönliche Erlösung ohne die Befreiung des anderen nicht möglich ist, die Grundlage des Christentums bildet und das jeder, der an ihr teilhabe, unabhängig ob er je etwas von Christus gehört habe diesen in sich trage. So haben wir in dem Bodhisattva-Gelübde das Christusprinzip wirken, das sich mit der Erdenentwicklung verbindet. Doch dieser Lebensstrom muss durch das geläuterte Seelenleben des Menschen in richtiger Weise ergriffen werden, um für die Bildung der höheren Seelenleiber eingesetzt werden zu können. Hier spricht der Buddhismus von zwei verschiedenen inneren Verhältnissen zum Lebensstrom.
Wirkt die Urkraft des Lebens ohne die Kraft der Erkenntnis, so wird sie zu einem endlosen Spiel von Trieben, andererseits wird die Erkenntniskraft ohne die Beziehung zum Leben zum zerstörerischem Gift des Intellektes, zum lebensfeindlichen dämonischen Prinzip.
„Wo jedoch diese beiden Kräfte zusammenwirken“, sagt Lama Anagarika Govinda, „sich durchdringen und ergänzen, da entsteht die heilige Flamme des erleuchteten Geistes (bodhi-citta), die sowohl leuchtet wie wärmt: in der die Erkenntnis zu lebendiger Weisheit wird und der blinde Daseinsdrang stürmender Leidenschaften zur Kraft allumfassender Liebe.“10 Derjenige in dem das Erleuchtungsbewusstsein erwacht ist, wird als der Sohn der Erleuchteten anerkannt.
In diesem lebendigen Licht, von dem die Buddhisten sprechen, das sich als Lebensstrom aus dem Herzen ergießt, sehen wir aus der christlichen Spiritualität heraus das Licht Christi, das den Ätherleib zum Lebensgeist umwandelt.
Die Buddhisten sprechen von dem „Elixier des Lebens“, das einerseits dazu dienen kann, wenn das Interesse für das Allgemeine noch nicht gereift ist, den physischen Körper über seine Bestimmung hinaus zur erhalten, andererseits aber auch dazu, diesen Lebensstrom zur Verwirklichung jenes höheren Lebens in einem geistigen Leib (Geistesmensch), der keine Todesfurcht kennt zu verwenden.
„Deshalb bitte ich dich“, schreibt der anonymer Lehrer in der „Wolke des Nichtwissens“, wende dich eifrig dieser demütigen Liebesregung in deinem Herzen zu und folge ihr nach, denn sie wird dein Führer in diesem Leben sein und dich zur Seligkeit im künftigen geleiten. Sie ist der Kern allen vollkommenen Lebenswandels, und ohne sie kann kein großes Werk begonnen oder zu Ende geführt werden. Sie ist nichts anderes als ein guter und mit Gott übereinstimmender Wille, verbunden mit einem großen, freudigen Wohlgefallen, das du in deinem Willen an allem empfindest, was Er tut.“11
Hier sei nochmal an die Worte des Novalis erinnert: „Wir sind mit nichts, als mit der Erhaltung einer heiligen und geheimnisvollen Flamme beschäftigt.“ Der Zustand der Seele wird hier beschrieben, den Rudolf Steiner mit dem Begriff des „Herzdenkens“ umschreibt, in dem das Denken in seiner Reinheit im Einklang mit dem göttlichen Willen steht.
So ist uns aus diesen Herzenskräften heraus, frei von jeder konfessionellen Gebundenheit, die Möglichkeit gegeben, den gemeinsamen Boden zu erkennen auf dem eine gleichberechtigte Begegnung der Religionen stattfinden kann. „Und je mehr wir fortschreiten in der zukünftigen Menschheitsentwickelung“, stellt Rudolf Steiner fest, „desto mehr werden die Religionen sich vereinigen, wie der Buddha und der Christus selber sich in unseren Herzen vereinigen.“12
1 Romano Guardini, Der Herr, Würzburg 1961, S. 360.
2 Lama Anagarika Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik, München 1975, S. 133 f.
3 Die Wolke des Nichtwissens, Christliche Meister Band 8, Einsiedeln 1980, S. 146.
4 Ernst Bindel, Die geistigen Grundlagen der Zahlen, Frankfurt am Main, 1983, S.14.
5 Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1979, S. 159.
6 Rudolf Steiner, GA 116, Vortrag vom 25.10.1909.
Rudolf Steiner weist ebenfalls in diesem Vortrag auf diese Verhältnisse hin, indem er diejenige Sphäre, die vom Osten mit dem Wort „Nirwana“ bezeichnet wird, sowohl jenseits der Astralsphäre, der des Geistselbst, als auch jenseits der Welt der Vorsehung, des Buddhi-Planes, zuordnet.
7 Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaften, Bd. 11, Hrsg. Ernesto Grassi, Hamburg 1963, S. 96.
8 Richard Samuel, Novalis-Ausgabe, Band 3, Stuttgart 1983, S. 608.
9 Helmut von Schweinitz, Buddhismus und Christentum, München 1955, S 47.
10 Lama Anagarika Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik, München 1975, S. 193.
11 Die Wolke des Nichtwissens, Christliche Meister Band 8, Einsiedeln 1980, S. 115.
12 Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit, Dornach 1977, S. 56