Die Wiederbesinnung auf den christlich-mystischen
Schulungsweg
MONS PHILOSOPHORUM
Berg der Philosophen
Teil II
Im ersten Teil dieser Betrachtung haben wir anhand der Darstellung des Bildes „Mons Philosophorum“, Berg der Philosophen, aus dem Buch „Geheime Figuren der Rosenkreuzer“ die einzelnen Schritte des inneren Schulungsweges aufgezeigt, die zur Entfaltung und Bewusstwerdung des „höheren Menschen“ führen. In den Stufen, die durch das geistige Erleben der Kreuzigung, Grablegung, Auferstehung und Himmelfahrt gekennzeichnet waren, haben wir eine Entsprechung zum Erdenleben des Christus und dem christlichen Schulungsweg.
Die Begegnung mit dem „Großen Hüter der Schwelle“, der Christuswesenheit, bewahrte uns vor der Gefahr, mit der Vervollkommnung unserer Seele zufrieden zu sein. Er wies uns den Weg zur Erde zurück, da nur dort die geistige Entwicklung so weitergeführt werden kann, dass wir dem Urbild des Menschen, dem Christus selbst, immer ähnlicher werden.
Im zweiten Teil sollen nun die weiteren Entwicklungsstufen aufgezeigt werden, die die Individualität befähigen mit dem Christus an der Evolution der Erde mitzuwirken. Somit haben die ersten zur Erfahrung des „höheren Menschen“ führenden Stufen keinen Selbstzweck, sondern sind Vorbereitungen, um mit der geistigen Welt an der Entfaltung eines die ganze Menschheit umfassenden Bewusstseins mitzuwirken.
Der Mann auf dem Turm baut nach der Begegnung mit dem Christus, dem „Großen Hüter der Schwelle“, sein Haus nicht unter des Sternenbaumes (Sophia), sondern unterhalb des Gipfels. Der Rauch des Hauses steigt weiter zum Gipfel, zu den höheren Einweihungsstufen, hinauf.
Auf der ersten Stufe musste der Mann, um sich der Kosmischen Jungfrau Sophia auf dem Weg der Läuterung zu nähern, seine „Alltagskleider“ ablegen. Nackt muss er sein, um ihr begegnen zu können, während der Mann auf dem Berg blaue Kleider und einen weißen Bart als Sinnbild für seinen geläuterten Astralleib, für reine Weishei trägt. Sein physischer und ätherischer Leib wurden auf dieser intuitiven Ebene der Erfahrung jenseits der Leiblichkeit „abgelegt“.
In der Realisierung der Sophia haben wir in der Sprache der Rosenkreuzer gelernt aus „unreinen Metallen“ Silber (Mond) herzustellen. Wir durchlaufen verschiedene Bewusstseinsebenen, welche in der Rosenkreuzerweisheit der Sprache der Alchemisten folgend als die drei Verwandlungsstufen von Nigredo (Schwärzung) zu Albedo (Weißung/Silber) und schließlich zu Rubedo (Rötung/Gold) beschrieben werden. Dies entspricht auf unserem Bild der Verwandlung des schwarzen Raben zum dem weißen Adler.
Die dreifache Christusoffenbarung
Wenden wir uns im weiteren Verlauf der inneren Entwicklung durch die Begegnung mit dem „Großen Hüter der Schwelle“ wieder der Erde zu, senkt sich das Sophienerleben in seiner Schönheit und Reinheit in unseren Brustbereich herab, wodurch sich ein „neues Organ der Mitte“ bildet. Die Kraft des geläuterten Astralleibes weckt Ätherkräfte zur Bildung eines „neuen Herzorgans“, das uns zum Tor einer neuen Ebene der Christusoffenbarung wird. Diese dritte Verwandlungsstufe wird in der Sprache der Alchemisten „Rubedo“ (Rötung/Vergoldung) genannt.
Wenn sich das „neue Organ der Mitte“, das „neue Herz“, in der Umschließung durch den geläuterten Astralleib öffnet, „die rote Rose“ zu erblühen beginnt, dann fließen wir gleichsam als ein feuriger Lichtstrom, in dem Denken und Wollen eins sind, zur Christussonne in ihrer dritten Offenbarung hin. Wir erfahren eine Annäherung an den Christus und werden uns durch diese innigste Umarmung unseres geistigen Selbst bewusst.
Haben wir am Anfang des Weges unsere Alltagskleider abgelegt, im „höheren Menschen“ das blaue Gewand der Sophia, der geläuterten Astralsphäre angezogen, so erhalten wir in der „Umarmung des Christus“ ein neues Gewand, einen neuen Leib, aus den Herzensqualitäten Feuer, Licht und Liebe, der ein Abbild des Christus selbst ist.
Zusammenfassend können wir auf dem rosenkreuzerischen Schulungsweg drei Stufen der Christusoffenbarung unterscheiden: das Erleben des Gekreuzigt- Seins am eigenen physischen Körper führte zur kosmischen Entsprechung der ersten Christusoffenbarung, der Imagination des gekreuzigten Christus inmitten der Erde. Als zweite Christusoffenbarung können wir die Schauung des Christus in dem „Großen Hüter der Schwelle“ bezeichnen.
Mit dem Erblühen des „neuen Herzorgans“ verbinden wir uns mit dem Christus in seiner dritten Offenbarung und erlangen in der Bewusstwerdung unserer Selbst den Auferstehungsleib.
Hier berühren wir die Quelle des spirituellen Christentums, aus der das uns überlieferte Bild des „Heiligen Gral“ hervorgegangen ist.
In der intuitiven Realisierung der geläuterten Astralsphäre bilden wir die „himmlische Schale“, die bereits die Weisen der vorchristlichen Zeit besaßen. Indem wir uns hingebend wieder der Erde zuwenden, unsere Mitte mit der himmlischen Reinheit umschließen, verwandelt sich die Schale, indem sie das neue Herz bildet, zum „Gral“. Vermögen wir diesen durch die dritte Christusoffenbarung mit dem Christusleben zu füllen, so verwandelt er sich zum „Heiligen Gral“, dem „Lebensspender“, der uns befähigt, den Ätherleib umzuarbeiten.
Nun vermag sich der Mann im blauen Kleid bewusst über die Turmzinne zu beugen und die Wurzeln des Baumes, in dessen Krone ein Fläschchen und ein Siebenstern zu sehen sind, in den Bottich, in dem Sonne und Mond eine Synthese eingehen, zu senken. Dies zeigt uns, dass er aus dem Erleben des Christus seine Seele mit Interesse für die Erde neu durchdringt und sich ihr nun frei von der Bindung an die polare sinnliche Welt wieder zuwendet.
Umwandlung der Erde zu einer neuen Sonne
In der weiteren Betrachtung der Symbolsprache des „Philosophenberges“ kommen wir zu der tieferen Bedeutung und Aufgabe der Rosenkreuzerweisheit.
Je mehr wir von der Christuswesenheit auf der dritten Ebene ihrer Offenbarung durchdrungen werden, umso stärker wird die geistige Kraft, die Materie in Gold oder die Erde zu einer neuen Sonne umzuwandeln. In der Bildsprache des Philosophenberges wird diese sich verstärkende Kraft als „Elixier“ in einem Fläschchen dargestellt, welches der Mann in der Krone des Baumes aufbewahrt.
Zum Verständnis des in der Baumkrone zu sehenden Siebensterns gelangen wir, wenn wir eine weitere Abbildung aus dem Rosenkreuzertum hinzuziehen. Auf Abb. 2 ist der Siebenstern von folgender Schrift umgeben „Vista Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem“, was übersetzt: „Suche das Untere der Erde auf, vervollkommne es, und du wirst den verborgenen Stein finden“, bedeutet. Dieser Satz wird als „VITRIOL-Formel“ bezeichnet da der jeweilige Anfangsbuchstabe der sieben Wörter „VITRIOL“ ergibt. Sie weist den Suchenden zum Mittelpunkt der Erde, wenn seine weitere innere Arbeit zum Wohle der Gesamtentwicklung fruchtbar werden soll.
Aus diesem Grund zeigt der Saturn in dem Siebenstern auf Abb. 2 nicht mehr auf die Pforte des Hauptes, die zu der Himmelssphäre führt, sondern zur Erde, zum „Corpus“, hin.
Im Siebenstern der Abb. 3, das „Mystische Lamm“ von Rudolf Steiner, haben wir die gleiche strahlenförmige Anordnung der Planeten, von Saturn über Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter und Venus, die Entwicklungsstufen der Erde, (siehe Die Geheimwissenschaft im Umriss)1 zu einer neuen Sonne hin. Doch diese weitere Entwicklung der Erde ist nur dann möglich, wenn der Mensch die Fähigkeit und den Willen entfaltet, sich dem Mittelpunkt der Erde zuzuwenden, um dort den Christus, der das Kreuz der Materie zum zweiten Mal auf sich genommen hat, zu erlösen, um mit ihm an der weiteren Entwicklung der Erde mitzuarbeiten. Die Rosenkreuzer sagten, dass Gott die Erde wunderschön geschaffen habe, doch um sie vollkommen zu machen, dazu bräuchte er die Hilfe des Menschen.
In Abb. 4 steht der Christus im Zentrum der vier, das Kreuz bildenden Elemente. Zweimal acht blutrote Blumenblätter, die Zahl der Neugeburt, umgeben ihn, aus denen eine neue Sonne erstrahlt. Christus linke Handfläche zeigt empfangend nach oben, während seine rechte nach unten weist.
So empfängt der Christus die in dem „Elixier“ konzentrierten Licht- und Liebeskräfte, die uns aus der dritten Christusoffenbarung zugekommen sind, in seiner linken Hand, um sie dann mit der rechten Hand weiter zum Zentrum der Erde zu leiten. Auf diese Weise arbeitet der Mensch mit Christus an der Erlösung, an der Erhöhung der Schöpfung mit.
Im Zentrum des Philosophenberges steht ein goldener Löwe auf einer inselhaften Erhebung. Er symbolisiert den Eingeweihten, der durch die in diesem Bild dargestellten Entwicklungsstufen gegangen ist. Er ist das Symbol für die Sonne, das Ich, das nach der Durchschreitung der Pforte des Saturns nicht stehen bleibt, sondern sich durch die Begegnung mit dem Großen Hüter der Schwelle wieder der Erde zuwendet, um an ihrer Durchchristung mitzuwirken. Diese Durchchristung der Erde ist das Ziel der Erdenentwicklung, was im Bild durch den roten Reichsapfel mit dem goldenen Ring und Kreuz auf der Spitze des Berges ausgedrückt ist.
Die über dem Berg schwebende Krone weist auf die uns aus dem Kosmischen zuströmende höchste Geistigkeit hin. Es ist das Mysterium des Vaters, von dem sich kein Mensch ein Bild zu machen vermag.
Die christlich-rosenkreuzerische Spiritualität kann nur dann in ihrer Bedeutung voll erfasst werden, wenn wir die innere Entwicklung, im Gegensatz zur häufig vertretenen Anschauungen der östlichen Spiritualität, nicht als eine nur linear aufsteigende Bewegung von unten nach oben betrachten. Vielmehr stellt sie sich als eine Auf- und Abwärtsbewegung, als eine Harmonisierung von Erden- und Himmelskräften dar.
Aus diesem Grund ist die Entfaltung der Individualität zwar eine notwendige Voraussetzung, jedoch kein Endziel, um an dem „Großen Werk“, wie es die Rosenkreuzer nennen, mitzuarbeiten. Dies geschieht aus der Erkenntnis, dass eine eigene Entwicklung im tiefsten Sinne ohne die Einbeziehung der ganzen Schöpfung bis in die Materie hinein nicht möglich ist.
Bildnachweis:
1 Mons Philosophorum, Berg der Philosophen, Geheime Figuren der Rosenkreuzer, Altona 1785/88, Neuauflage, Berlin 1919, S. 11
2 Bibliotheca Philosophica Hermetica Amsterdam
3 Rudolf Steiner, Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft, Dornach 1989, S 314.
4 Geheime Figuren der Rosenkreuzer, „die unterste Sonne in der Erde“, Altona, 1785/88, Neuauflage, Berlin, 1919, S. 10
Anmerkungen:
1 Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss
2 Ein Beitrag von mir zum Verständnis des Bildes „Berg der Philosophen“ wurde von den AMORC Rosenkreuzer in den USA im Rose+Croix Journal, Juni 2011, Volume 8, als Diskussionsgrundlage veröffentlicht.
3 Wenn wir den Beitrag „Tabula Smaragdina“, der von mir in der Wochenschrift "Das Goetheanum" Nr.33/34 15. 8. 2008 erschienen ist lesen, dann werden wir feststellen können, dass dieses Emblem, welches wie der „Philosophenberg“ in dem Buch „Geheime Figuren der Rosenkreuzer“ abgebildet ist, obwohl in sehr unterschiedlicher Symbolsprache dargestellt, von der gleichen Bewusstseinsentfaltung durch die verschiedenen Ebenen der geistigen Erfahrung spricht.
4 Für die Weihnachtsklausur 2012 wählte das Kollegium der „Freien Waldorfschule Karlsruhe“ das Thema Meditation. Während des von mir gehaltenen Seminars bildete das Bild „Berg der Philosophen“ die Grundlage, um den inneren Schulungsweg aufzuzeigen.
Teil I | Buchvorstellung | Artikel von Zoran Perowanowitsch | |||||